Mit ihrem ursprünglich als Theater konzipierten Roman “Geiseln” hat Nina Bouraoui den Prix Anaïs 2020 gewonnen.
Die Protagonistin dieses überzeugenden kurzen Romans (pp. 124), Sylvie Meyer, scheint ihr Leben ganz der Arbeit zu unterwerfen. Eines Tages wird sie von ihrem Chef dazu angehalten, ihre Mitarbeiterinnen in Kategorien der Arbeitswilligkeit einzuteilen, sprich, diese für ihn auszuspionieren.
Gewohnt, sich als Frau zu fügen, gehorcht sie auch dieser Anweisung.
Als dann ihr Mann sie verlässt, sie ausser ihren beiden Söhnen keinen Halt im Leben mehr findet, wird die Belastung unerträglich und sie rastet aus. Sie wird von der allseits Gedungenen selber zur Unterwerferin und “commet une connerie” (begeht eine Dummheit).
Trotz aller Selbstvorwürfe findet sie durch diese Tat — der Inhalt derselben sei hier nicht verraten– zu sich selbst.
Beschreibt sich die Protagonistin einleitend als “jede Gewalt verabscheuend”, stürzt sie bald in einen tiefen Schacht der Selbsterkenntnis.
Und genau da besticht der Roman: Durch seinen eindrücklichen Stil, insbesondere in Form der wiedergegebenen Instruktionen des Chefs, die Sylvie ohne Kommentar willenlos rezitiert. Diese Beschreibung spiegelt ihre geistige Geiselhaft aufs Treffendste.
Die Entwicklung des Plots wird subtil geführt durch die Selbstreflektion der Hauptperson, die in immer tieferen Kreisen der Erkenntnis zur Einsicht gerät, dass nur dieser eine mutige Ausbruch ihr helfen kann, sich aus den patriarchalischen Unterdrückungsmustern zu befreien.
Noch vor der Debatte von #MeToo hat sich die Autorin mit der Unterdrückung der Frau (“wir Frauen leben in der allgegenwärtigen Angst einer Vergewaltigung”) beschäftigt und eindrücklich geschildert, wie Vertrauen missbraucht, Gefühle verletzt und bleibende seelische Schäden verursacht werden können.
Der Autorin gelingt es bis zuletzt, die wahren Ursachen für Sylvies Ausbruch zurückzuhalten. Der Leser ahnt zwar etwas, muss sich aber bis zuletzt gedulden.
Die aufgebaute Spannung wird erst mit ihrem auf den letzten Seiten abgedruckten Brief aufgelöst.
Das Buch hat meine Erfahrungen mehr als erfüllt. Es weckt Verständnis für die Anliegen der Frau, verurteilt das machohafte Gebaren von Männern in Machtpositionen und ist ein kluger Beitrag zu den schon erwähnten Debatten.
Sehr empfehlenswertes Werk einer im deutschen Raum (leider) noch unbekannten Autorin: Nina Bouraoui ist eine 1967 in Rennes geborene Algerierin..
Prix du livre Inter 1991/Prix Renaudot 2005/Prix Anaïs Nin 2020 361words