Die blinde Marie-Laure fährt mit ihren Fingern über die Blindenschrift ihres einzigen und liebsten Buches von Jules Verne. Sie erkundet tastend die Miniatur-Stadt, die ihr Vater für sie gebaut hat. Sie steht auf der Strasse in Paris und versucht sich inmitten der verschiedenen Geräusche zu orientieren. Mit Marie-Laure taucht man in eine Welt rund um den Beginn des zweiten Weltkrieges ein und lernt unter anderem verschiedene Gefahren kennen: in einer unbekannten Stadt die Orientierung zu verlieren, der Krieg, der sich nähert, und ein Stein namens «Sea of Flames», der gemäss einer Legende dessen Besitzer verflucht.
Anthony Doerr unternimmt mit seinem Schreibstil eine Gratwanderung zwischen Faszination fürs Detail und langatmigen Beschreibungen. Das Lesen selbst ist mühsam, aber die Erinnerung daran bleibt: Ein Mädchen und dessen Vater, die auf das Gute im Menschen angewiesen sind. Menschen, die sich durch Angst, Macht und Hoffnung verändern – manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten. Und ein Junge, der jedes Radio reparieren kann.
Der zweite Erzählstrang ist aus der Sicht eines deutschen Jungen geschrieben: Werner wächst in einem Waisenhaus auf, zusammen mit seiner Schwester. Er will eigentlich nur für ein gutes Leben arbeiten und seine Schwester beschützen. Doch was ist ein gutes Leben? Was heisst beschützen? Er zerstört das Radio seiner Schwester, da sie einen verbotenen Sender hört. Er protestiert nicht, als sein bester Freund im Internat zusammengeschlagen wird. Er ist das entscheidende Teammitglied der Nazis auf der Jagd nach verbotenen Radiosendern. Trotzdem spürt man, dass Werner kein schlechter Mensch ist. Ihm fehlt der Mut, seinem eigenen Urteilsvermögen zu vertrauen.
«All the light we cannot see» stimmt nachdenklich. Wie viele Menschen gab es damals, denen der Mut fehlte? Wie viele gab es, die über sich hinauswuchsen? Was bedeutet Glück, wenn man alles verloren hat?
Ich wollte stellenweise nicht weiterlesen (denn immerhin handelt es sich um über 500 Seiten zähen Sirups) und fragte mich wiederholt: Wie viele Seiten sind noch übrig bis zum Ende? Gleichzeitig konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen, sondern wollte erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Ausserdem sind einige wunderschöne Bilder beschrieben. Die süssen, klebrigen Pfirsiche nach mehreren Tagen des Hungerns sind für das Leserauge eine Wohltat. Die Miniatur-Stadt aus Holz ist vor dem inneren Auge ein Kunstwerk, gemacht mit der Liebe eines Vaters für seine Tochter.
In drei Jahren wird mir die Erinnerung wieder so überzeugend im Gedächtnis sitzen, dass ich das Buch erneut lesen werde – wahrscheinlich erneut überrascht davon, beim Lesen nicht vom Fleck zu kommen.