Verlieben sich zwei junge Menschen wird das meist entweder nicht wirklich beachtet oder als Selbstverständlichkeit aufgenommen. Wie aber sieht es aus, wenn sich bei zwei Menschen im Alter aus einer Freundschaft Liebe entwickelt, sie ein spätes Glück für sich finden? Leider ist es da nicht weit her mit einer wohlwollenden Selbstverständlichkeit. So auch im Roman von Kent Haruf. Zwischen Addie und Louis entwickelt sich ganz vorsichtig und leise eine Freundschaft. Beide wollen Jahre nach dem Tod der Ehepartner nicht für immer allein durchs Leben gehen, wollen wieder menschliche Nähe spüren. Doch diese zarte Liebe bleibt in der Kleinstadt nicht unbemerkt und wird mit Argwohn, Missgunst und wohl auch Neid begleitet. Keiner scheint den beiden das Glück zu gönnen. Am schlimmsten fand ich die Reaktion von Addies Sohn. Er stellt sie tatsächlich vor die Wahl zwischen Louis und der Möglichkeit, Zeit mit dem Enkelsohn zu verbringen. Ein unglaubliches Ultimatum, das mich fassungslos zurückgelassen hat.
Die feine, poetische Erzählweise von Haruf hat mich direkt in den Bann der Geschichte gezogen. Ich habe mit Addie und Louis mitgelitten, mich über das Glück der beiden gefreut, dass so wundervoll eindringlich beschreibt, dass Liebe nun mal keine Sache der Jugend ist, sondern kein Verfallsdatum hat. Vielmehr gewinnt man zunächst die Gewissheit, dass auch im Alter noch Überraschendes und Schönes passiert, wenn man nur bereit ist, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Die Bitterkeit des Endes fordert jeden dazu auf, Normen und gesellschaftlichen Zwängen entgegen zu treten oder zumindest denjenigen das zerbrechliche Glück zu gönnen, die sich trauen, etwas zu wagen.
Mit „unsere Seelen bei Nacht“ ist Haruf ein wundervoller Roman gelungen, der die Höhen und Tiefen menschlichen Lebens darstellt und uns daran erinnert, dass wir die Chance haben, aus einem gefühlt gewöhnlichen Leben etwas wunderbares und einzigartiges zu machen – wenn wir nur den Mut finden, unseren eigenen Weg zu gehen.
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