Lutz Seiler beeindruckte mich schon als Lyriker mit seinen aufs Wesentliche kondensierten Gedichten. Dass er dann auch im entgegengesetzten Format überzeugt, hat sein erster Roman «Kruso» gezeigt, in dem er mit der grandios erzählten Geschichte einer libertären Gemeinschaft auf der Insel Hiddensee die letzten Tage der DDR lebendig werden liess. Sein aktueller, zweiter Roman schliesst sich unmittelbar an und beginnt, als die Mauer gerade gefallen ist.
Auch «Stern 111» führt die Hauptperson, den nach Wort, Sinn und Liebe suchenden Dichterlehrling Carl, mitten in ein Milieu, das von der offiziellen Historie der Wendezeit nicht zu (er)fassen war: Im offenen Ostberlin schliesst sich Carl dem «Klugen Rudel» an, einer anarchistisch-bunten Instandbesetzer-Brigade mit Oberhaupt und Visionär Hoffi «der Hirte», ihr Reich und Aktionsfeld sind die heruntergekommenen Häuserzeilen in Prenzlauer Berg. Im Chaos der befreiten Stadt erobern sie dort verlassene Wohnungen – und finden unendlich Raum, um ihre Lebens-Utopien zu verwirklichen. Als zweite Ebene setzt der Roman dem die (für diese Zeit ebenso bezeichnende) Geschichte der Aussiedler-Odyssee von Carls Eltern entgegen, «den unmöglichsten Flüchtlingen, die er sich vorstellen konnte». Gleich nach der Grenzöffnung in den Westen aufgebrochen, haben die beiden ein kühnes, dem Sohn lange undurchschaubares Ziel vor Augen, das sie ihm erst verraten, als sie es erreicht wissen.
Autobiografisches fliesst in den neuen Roman reichlich ein und verleiht ihm so viel spürbare Authentizität, dass er mir noch näher geht als sein Vorgänger. Besonders gefällt er mir auch dann, wenn er das tapfere Ringen von Lutz Seilers Alter Ego Carl um die wahre poetische Haltung, um den richtigen Ausdruck, um «das absolute Gedicht» schildert. Selbst hat der Autor längst zu (s)einer wunderbaren, eindringlich sanften und sorgfältig ergründenden Sprache gefunden – mit «Stern 111» setzt er damit einer verrückten Zeit und ihren unsichtbar leuchtenden Protagonisten ein grossartiges literarisches Denkmal. Volle Punktzahl!