Jemand sagte mal, dass Kultur darin bestehe, die Rezipienten zu überfordern. Dostojewskis erster Roman, 1866 erschienen, wird dieser Definition über alle Massen gerecht. “Schuld und Sühne” ist ein Buch, in dem das ganze Universum drin ist. Es irritiert, begeistert, rührt und stösst zuweilen auch ab. Die Grösse des Gegenstands wird ausserdem durch den Reichtum der Sprache bedient. Man kann sich einfach fallen lassen und sich über den Rhythmus der Sätze in die hochkomplexe Welt des Romans einschwingen. Die grossartige Übersetzerin Swetlana Geier hat ganze Arbeit geleistet.
Besonders irritierend finde ich die Figur der Sonja - einer Prostituierten, einer Kindsfrau mit mütterlichen Zügen, eine heilige Sünderin oder eine sündige Heilige, die sich ganz ihrem Schicksal ergibt. Eine Figur, die einen, bei aller Irritation, packt und nicht loslässt. In ihrer Widerstandslosigkeit liegt eine grosse Kraft. Dostojewski hütet sich davor, Konformismus mit Schwäche gleichzusetzen; in der Szene, als Raskolnikov Sonja sein Verbrechen beichtet, wird das besonders deutlich. Sensationell auch die Szene, in der “der Mörder und die Dirne”, wie es heisst, gemeinsam in der Bibel lesen. Da bleibt einem die Sprache weg.
Der Roman ist nichts für diejenigen, die flache Charaktere und eine vorgefertigte Weltinterpretation suchen. Das Buch ist so facettenreich, dass sich Sünder wie Heilige in einer einzigen Figur wiedererkennen. Das Buch ist Schelmenroman, Krimi, Bibel und Weltgeschichte zugleich. Weltliteratur ist es ohne Frage. Vielleicht sogar ein Wunder.