Mit diesem Buch redet Melandri den Italienern ins Gewissen, fordert sie auf, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.
In einem äusserst vielschichtigen Roman führt sie uns in die Wirren des italienisch-abessinischen Krieges, in Mussolinis Faschismus, in die abscheuliche Rassentheorie, die erschreckenden, absolut brutalen Machenschaften der Italiener im kolonialisierten Äthiopien und die Verdrängung dieser Tatsachen im heutigen Italien vor Augen.
Auslöser ist die Erscheinung Shimetas, eines Flüchtlings aus Äthiopien, der mittels eines Ausweises behauptet, ein Enkel des Ältesten Profeti zu sein.
Dessen Tochter Ilaria nimmt sich des unerwarteten Ankömmlings an und wird durch Nachforschungen auf die unglaubliche, ungeheuerliche und meist schockierende Fährte der Geschichte ihres Vaters gebracht.
Da dieser dement ist, kann er sich nicht mehr verteidigen.
Neben dem fesselnden Plot enthält der 596-seitige Roman auch viele Passagen, die den Lesefluss hemmen.
Gewiss ist es interessant, wie gekonnt und genauestens recherchiert Melandri die Korruption bzw. Vetternwirtschaft im heutigen Italien beschreibt. Die eingestreuten Rückblenden in die Vergangenheit verzetteln sich aber oft, so in Details über General Graziani, mit der Geschichte der Eltern und Kindheit Attilio Profetis, dessen selbstbewusste Auftritte, die auf seiner arischen Schönheit, seinem Glück und seinem Glauben an sein ihm gut gesinntes Schicksal, der dem Buch den deutschen Titel mit „Alle ausser mir“ gab, fussen.
Der Schauplatz ist anfänglich Rom anno 2010, aufbauend auf dem bürgerlich-liberalen Hintergrund der Familie Profeti. Diese Idylle gerät mehr und mehr ins Wanken, was immer wieder durch Rückblenden in den Abessinien-Krieg 1935/36 gespiegelt wird.
Eine Schlüsselfigur ist der Richter Cornaroli, das Gewissen des Buches, hin- und hergerissen zwischen moralischen und gesellschaftlichen Konflikten, ausgestattet mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der die Heuchelei durchschaut.
Der durch Wiederholungen, Vergleiche (Zeit = für den Italiener ein Fluss der mehr oder weniger gleichmässig an den Ufern von Arbeit, Beziehungen, Mahlzeiten, Schlafen mit einem sicheren Dach über den Kopf entlangfliesst. Für denjenigen, der raus ist, schreitet voran wie ein Geisteskranker, der mal in Sprüngen und Zuckungen, mal in Erschöpfungs-phasen der totalen Lähmung, in ruckartigem Hochfahren…. 90), Clichés, und brutal die krude Sexualität gekennzeichnete Stil ist schlicht genial. Melandri ist eine Meisterin der Formulierung.
Es lohnt sich absolut, das Buch im italienischen Original „Sangue giusto“ zu lesen, obwohl die deutsche Übersetzung sehr gut gelungen ist.
Trotz allem hemmen die Neben-Erzählstränge oft den Lesefluss, und es gilt hie und da, durchzuhalten.