Die Verlorenen" ist mir in der Verlagsvorschau bereits aufgefallen - kein Wunder bei dem Cover! Aber ich entschied mich, ihn nicht diesen Frühling zu lesen. Irgendwann mal vielleicht, denn das Thema sprach mich nicht wirklich an. Doch dann bekam ich die Printausgabe vom Verlag zugeschickt und später noch das eBook. Da ich es nun doch zuhause liegen hatte, wollte ich nur kurz mal reinlesen.
Und ich wurde überrascht. Von der ersten Seite an hat mich Autorin Stacey Halls mitgerissen. Die Geschichte von Bess Bright, die ihr Baby aufgrund ihrer Lebensumstände im Findelhaus abgibt, hat mich gepackt.
Wie Bess mit sich gerungen hat, das Baby abzugeben, obwohl das damals in ihrem Stand üblich war. Und dann, sechs Jahre später, wie gross ihre Enttäuschung war, als sie ihre Tochter nach abholen wollte, denn endlich hatte sie - hoffentlich - genügend Geld angespart, um das Kind abzulösen, und sie mitgeteilt bekam, dass Clara schon abgeholt wurde. Was danach passierte? Lest es selbst!
Die Autorin lässt uns hinter viele Häusermauern, Wohnsituationen, Familienschicksale und Gesellschaftsschichten blicken, und zeichnet ein eindrückliches Bild von London im 18. Jahrhundert. Sei es das Waisenhaus, das Leben als Krabbenverkäuferin, Kleiderverkäuferin, Fackelträger, Arzt, als reiche Witwe - und nicht zuletzt auch von einem Kind, das alles und trotzdem nichts hat.
Die Geschichte von Bess Bright und ihrer verschwundenen Tochter grundiert auf einer aussergewöhnlichen Idee - solche tollen Geschichten, die man nicht schon hundertmal gelesen hat, mag ich ja eh generell total gerne.
Ich war aber auch mächtig gespannt auf das Ende, denn das hätte voll in die Hose gehen und den Roman zerstören können. Egal, welches Ende Stacey Halls sich ausgedacht hätte, aus dieser Geschichte einigermassen glaubhaft rauszukommen war nicht leicht zu bewältigen. Es durfte also weder zu kitschig noch zu tragisch sein - das ist der Autorin gelungen, obwohl mir das alles fast ein bisschen zu schnell ging und ich zwischendurch gerne noch ein bisschen mehr über Bess Empfindungen gelesen hätte. Aber wie gesagt, das Ende steht auf des Messers Schneide, es war ein schwieriges Unterfangen.
“Die Verlorenen” wird mir auf jeden Fall noch lange in Erinnerung bleiben, für mich ist es einer der besten historischen Romane der letzten Jahre.
Da ich mir den Krabbenhut von Bess nicht vorstellen konnte, hab ich nach einem Bild gesucht. William Hogarth hat diesen Hut in “Die Krabbenverkäuferin” gemalt. Interessant fand ich, dass gegen Ende des Romans ein anderes Bild von ihm erwähnt wird, welches ich mir dann auch gleich angeschaut habe - und muss sage, es passt wirklich perfekt. Dr. Mead hat es treffend ausgewählt.
Fazit: Das berührende Schicksal zweier Frauen und einem Kind fasziniert erzählt. Absolut lesenswert!
5 Punkte.