Colm Tóibíns Long Island ist ein tiefgründiger, nachdenklicher Roman, der mich sowohl ratlos als auch traurig zurückgelassen hat. Im Zentrum der Erzählung steht die Geschichte von Eilis und Jim, die sich zwischen persönlichen Sehnsüchten und gesellschaftlichen Erwartungen hin- und hergerissen fühlen. Was das Buch für mich besonders auszeichnet, ist der zentrale Konflikt um die fehlende Entscheidungsfreudigkeit und die ständige Auseinandersetzung mit den Zwängen, die die Gesellschaft an sie stellt und was das die Unentschlossenheit bei den Mitmenschen auslöst.
Eilis wird zu Hause mit der Tatsache überrascht, dass ihr Mann sie betrogen hat und das daraus entstandene Kind bei ihrer Schwiegermutter aufgezogen werden soll, welche direkt nebenan lebt. Aus Trotz und fehlender Kommunikationsfähigkeit flüchtet Eilis in ihr Heimatland, Irland. Dort trifft sie ihre alte grosse (?) Liebe wieder, welche sie früher für ihren Mann in Amerika verlassen hat und sieht sich erneut mit der Frage konfrontiert, für welchen Mann sie sich jetzt entscheiden soll. Jim, der besagte Mann, ist seinerseits nun mit der ehemaligen besten Freundin von Eilis verlobt, was aber noch nicht offiziell ist, und hütet sich davor, sich für eine Frau zu entscheiden, da er diese Entscheidung ganz Eilis überlässt. Die inneren Konflikte und die Ängste, sich für eine Richtung im Leben zu entscheiden, ziehen sich durch die gesamte Geschichte. Tóibín schafft es meisterhaft, diese Zerrissenheit auf eine Weise darzustellen, die dem Leser das Gefühl gibt, wie lähmend und einschränkend diese Unentschlossenheit sein kann. Es ist nicht nur eine Frage des persönlichen Wunsches, sondern auch eine Frage der gesellschaftlichen Normen, die sie dazu drängen, Entscheidungen zu vermeiden, um Konflikte zu vermeiden. Manchmal habe ich mich aber schon gefragt, ob die gesellschaftlichen Zwänge einfach als Vorwand vorgeschickt wurden, sich nicht entscheiden zu müssen.
Was ich an diesem Buch am meisten prägte, war die Tatsache, dass es keine einfachen Antworten gibt. Es gibt keine klare Lösung für die inneren Konflikte der Hauptfiguren, keine eindeutige Entscheidung, die das Dilemma auflöst. Stattdessen bleibt die Geschichte in einer Art Schwebe, was mich als Leserin ratlos zurückließ. Tóibín fordert uns heraus, in einer Welt zu leben, in der Entscheidungen oft keine einfachen Lösungen bieten, und in der das Gefühl von Verlorenheit und Entfremdung alltäglich ist.
Obwohl der Roman in den 1950er Jahren spielt, ist er sehr aktuell. Denn in der heutigen Zeit scheint mir die Entscheidungsfreudigkeit auch nicht unbedingt herausragend zu sein. Und vielleicht ist es auch das, was einem am Ende ratlos und vielleicht auch etwas wütend zurücklässt. Als Leser kommt man definitiv an den Punkt, an dem man nach einer Entscheidung lechzt, was einem aber verwehrt bleibt.