Thomas Strässle erzählt in «Die Fluchtnovell» die Geschichte seiner Eltern, die sich 1966 in der DDR kennenlernen (er ist zu Besuch aus der Schweiz) und schon bald vor der Frage stehen: Wie kann eine Beziehung unter diesen Bedingungen aussehen? Welche Möglichkeiten haben sie? Als legal kein Weg zur Verfügung steht, bleibt nur noch die Flucht. Die Anspannung der Vorbereitung, die Endgültigkeit der Entscheidung, die gerade Strässles Mutter vor immense mentale Herausforderungen gestellt haben muss, das zeichnet der Sohn skizzenhaft nach und doch sind uns die Auswirkungen in ihrer Gänze nur zu bewusst.
Neben seiner präzisen und eindrücklichen Erzählweise begeistert mich die «Fluchtnovelle» zudem wegen der stilistischen Vielfalt. Strässle liegen Tonbandaufnahmen seiner Eltern vor, die er in ihrer Transkribierung einbaut. Er zitiert aus Gesetzestexten der DDR und der Schweiz, flicht ein Polizeiprotokoll und Zeitungsausschnitte ein, wechselt zwischen allwissendem Erzähler und der Ich-Perspektive, baut die Fussball-WM in England und einen Abriss der diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Situation der DDR von ihren Anfängen bis 1967 und darüber hinaus ein. Entstanden ist ein faszinierendes Dokument Zeitgeschichte, dessen Lektüre, trotz des bekannten Ausgangs, ungemein spannend ist.