Sing, wilder Vogel, sing" von Jacqueline O’Mahony hat mich aus meiner üblichen Lektüreauswahl herausgeführt und meinen literarischen Horizont erweitert. Normalerweise lese ich Krimis, Science Fiction, Klassiker der DACH-Literatur oder Fantasy, aber der Klappentext dieses Buches machte mich neugierig. Er versprach eine bewegende, tragische und doch hoffnungsvolle Geschichte. Soviel vorweg: Das Buch hält Wort. Allerdings gibt es einige Punkte, auf die ich noch zu sprechen komme, die dazu führen, dass ich es nicht zu meinen Lieblingsbüchern oder zu den Büchern, die ich unbedingt empfehlen würde, zähle.
Das Cover mit dem Frauenportrait von Anne-Sophie Tschiegg in zarten Rosatönen lässt auf den ersten Blick wenig vom Inhalt erahnen. Tatsächlich entpuppt sich das Bild als Teil einer Serie der Künstlerin mit dem Titel „les petites catins“ (die kleinen H*ren). Warum sich die Bildwahl des Diogenes-Verlages als raffiniert erweist, der sich gegen ein Vogelsujet wie in der englischen Originalausgabe entschieden hat, wird gleich zu Beginn deutlich, denn der Zusammenhang zwischen Bild und Geschichte wird gleich gelüftet.
Die Handlung des Buches entfaltet sich in einem klaren, einfühlsamen Schreibstil, der es leicht macht, mit der Protagonist Honora auf ihrer Reise mitzufiebern. Besonders beeindruckt hat mich die Szene rund um die Geburt - selbst als Mann, konnte ich den Schmerz und die Intensität dieses Moments nachempfinden. O’Mahonys bildhafte Sprache, die immer wieder von Metaphern des titelgebenden “Vogels” geprägt ist, verleiht der Geschichte eine poetische Tiefe und macht die Erzählung lebendig.
In den ersten zwei Dritteln gelingt es der Autorin, viel Authentizität zu erzeugen. Die bedrückende Situation der Protagonistin ist spürbar, und als Leser zweifelt man ebenso wie Honora, ob es einen Ausweg aus ihrer desolaten Lage gibt. Besonders bemerkenswert ist, wie O’Mahony zeigt, wozu Menschen in Extremsituationen fähig sind, wenn der reine Überlebensinstinkt sie antreibt. Szenen, die die dunklen Abgründe der menschlichen Natur in Zeiten der Not zeigen, regen zum Nachdenken an. Die Frage, ob wir als Menschen unsere moralischen Werte aufgeben, wenn uns die Not überwältigt, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.
Im zweiten Drittel bleibt die Geschichte relativ offen und man fühlt sich als Leser ähnlich wie Honora: heimatlos und unsicher, wie es weitergehen soll. Die Autorin zeigt gut, wie Leid, Entwurzelung und Entfremdung jemanden wie Honora in eine Spirale führen können, aus der es kaum ein Entrinnen zu geben scheint.
Etwas enttäuscht hat mich allerdings das letzte Drittel des Buches. O’Mahony gelingt es zwar, die Parallelen zwischen Irland und Nordamerika herauszuarbeiten, was für den historischen Kontext der Geschichte wichtig ist, aber gleichzeitig verliert dadurch die Geschichte an Spannung. Man ahnt schnell, in welche Richtung sich die Erzählung entwickeln wird. Auch die Figur des Joseph, der am Ende als rettende, indigene „Superman“-Figur auftaucht, war für meinen Geschmack etwas zu klischeehaft und kitschig. Braucht es wirklich einen „perfekten“ Mann, damit Honora ihren Platz in der Welt findet?
Mein Fazit
“Sing, wilder Vogel, sing” gehört nicht zu meinen Lieblingsbüchern, aber es ist zweifellos ein gutes Buch. Es bietet Diskussionsstoff zu wichtigen Themen wie Rassismus, Identitätsverlust und der Frage, was Not und Armut aus Menschen machen können. Die bildhafte Sprache, die teilweise gute historische Recherche und die emotionale Tiefe - besonders in Szenen wie der Geburt - machen das Buch lesenswert, auch wenn es in den letzten Kapiteln etwas an Spannung und Glaubwürdigkeit verliert.