Erwartungen
Umschlag- und Klappentext offenbaren bereits das Drama. Eine Frau am Abgrund. Ein Mann, der sie retten will. Ob sie sich wird befreien können?
Ich mag Biografien mit Tiefgang, in denen sich die beschriebenen Figuren zeigen – zeigen müssen.
Und dann wird da auch noch Rilke zitiert. Das verspricht tiefe Gefühle, mit viel Liebe und noch mehr Leiden.
Meine Erwartungen sind gross.
Sprache
Die stilistische Raffinesse von Jacqueline O‘Mahony hat mich durchwegs überzeugt.
Während des Lesens musste ich immer wieder innehalten und über die Sprachkunst der Autorin staunen.
Der Roman beginnt bereits mit den ersten Sätzen anspruchsvoll, präzise und verheissungsvoll. Die Hauptfigur am Fenster vergleicht die Abenddämmerung und das Licht der bevorstehenden Nacht mit dem Licht und der Himmelswölbung Zuhause. Hier enthält die Nacht etwas vom Abend, Zuhause aber ist die Nacht ein anderer Ort als der Tag.
Da gilt es als Leser aufmerksam zu werden und zu bleiben. Kein platter Aktionismus offenbar. Der Einstieg gefällt mir schon mal, mehr noch: Der erste Abschnitt begeistert mich mit seiner poetischen Wucht und seiner Intensität. Wann passiert das sonst in einem Buch gleich mit den ersten Worten?
Handlung
«Die Liste der Dinge, die ich lernen muss, um zu überleben, wird mit jedem Tag länger», sagt sich Honora nach zwei Dritteln des Romans.
Die weibliche Hauptfigur hat in Irland bereits Kälte und Hunger überlebt, dazu den Verlust von Mann und Kind erlitten. Sie ist nach Amerika geflüchtet, wurde als Haushaltshilfe um ihren Lohn geprellt und alsdann zur Prostitution genötigt. Nachdem Honora ihrem Peiniger ins Bein schiesst, flieht sie in den Westen.
Etwas sehr viel für ein junges Frauenleben des 19. Jahrhunderts, mag man sich denken. Doch so richtig «strub» wird es dann gegen Ende des Romans.
Dieser «amerikanische Teil» ist mir doch ein bisschen zu abgedreht und erinnert mich in seiner rauen Brutalität an Wildwest-Filme wie «Spiel mir das Lied vom Tod».
Aber vielleicht braucht es diese Cowboy-Indianer-Story, damit die Protagonistin doch noch ihr bescheidenes Glück finden kann …
Resumee
Die grosse Stärke dieses historischen Romans ist die Zeichnung der eigensinnigen Frauenfigur Honora. Sie wandert 1849 von Irland nach Amerika aus und kämpft sich durch alle Widrigkeiten dieser düsteren Zeit. Zur überzeugenden Charakterbeschreibung kommt die wundervolle Sprache von Jacqueline O‘Mahony.
Poetisch, kraftvoll, überraschend.