+ Das Zitat
“Ach Frau Gruber”, sagt Korb und seufzt, “so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloss alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären.”
Ich nicke. “Ja”, sag ich, “wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können.”
+ Die Thematik
Eva Gruber ist, wie sie selbst sagt, im “Irrenhaus” nahe Wien. Dort wird sie eingeliefert nachdem sie behauptet hat, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben (was nie geschah).
In der grossen psychiatrischen Einrichtung ist auch ihr magersüchtiger Bruder Bernhard. Und diesen will sie um jeden Preis beschützen. Nur: Vor wem und was eigentlich genau? Was hat es mit der Vergangenheit der Familie auf sich und mit der Besessenheit mit dem Vater…?
Eva ist die unzuverlässige Erzählerin dieser Geschichte.
Höchst manipulativ, mit derbem Witz und sich erst im Verlauf des Romans erschliessender Motivation führt sie uns durch ihren Anstaltsalltag und ihre Vergangenheit. Was stimmt? Was ist gelogen? Und wie krank ist wer eigentlich?
+ Zum Mitnehmen
Wer mit der (traumatischen) Realität nicht zurechtkommt, erfindet alternative Geschichte(n).
+ Kritik
Lehners 2019 erschienener Roman hat mich begeistert. Eva Gruber ist eine Protagonistin, wie man sie nur selten trifft. Abwechselnd will man sie abwatschen und umarmen. Krass manipulativ versucht sie Kontrolle über Leben und ihre eigene Geschichte zu bekommen, während man als Leser gleichzeitig schnell merkt, dass sie genauso sehr Opfer (ihrer Krankheit) wie “Täterin” ist. Wahn, Schutzbedürfnis und Überforderung spielen eine grosse Rolle.
Die Geschichte überzeugt mich mit ihrem derben Witz, der ausgezeichneten Charakter- und Milieuanalyse sowie der tollen strukturellen und formalen Gestaltung. Die traumatisierte ländlich-katholische Familie wird hautnah beschrieben, dabei wirds nie frömmelnd oder bieder. Im Gegenteil.
Hinzu kommen witzige persiflierende Passagen auf psychiatrischen Alltag und Behandlung. Ein toller Roman!