Ich habe dieses Buch als Lesung in elf Fortsetzungen am Radio gehört. Ein wunderbares Hörerlebnis.
Der Titel sagt es bereits, es geht um die Mutter, die Mutter von Sylvie Schenk. Die Autorin weiss nur sehr wenig über die ersten Jahre ihrer Mutter Renée. Nur dass sie 1916 in Lyon geboren wurde und dass deren Mutter, eine alleinlebende Frau, bei der Geburt stirbt. Dieses Unwissen hat Sylvie Schenk und ihre vier Geschwister schon als Kinder beschäftigt, doch wenn sie Fragen stellten, erhielten sie nur ausweichende Antworten oder ihre Mutter erinnerte sich nicht mehr. Das wird in diesem Satz ganz wunderbar beschrieben: “Die unbekannte Herkunft und Vergangenheit der Mutter, Grossmutter, die Urgrossmutter, die Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen, sind zu einem weissen Elefanten unserer Fantasie geworden, ein Tier, das uns immer noch weiter in ausgefranste Gebiete zieht.”
Weil der Autorin das Rätsel um die eigene Familiengeschichte auch im Erwachsenenalter keine Ruhe liess, entstand schliesslich dieses Buch. Aus nur wenigen konkreten Eckdaten und im Austausch mit ihren Geschwistern lässt Sylvie Schenk darin ein Bild ihrer nie ganz greifbaren Mutter entstehen, dichtet ihr Gefühltes und Erlebtes an, versucht auch der Grossmutter und Urgrossmutter ein Gesicht zu geben und schildert dabei die schwierigen, oft grausamen Lebensumstände jener Zeit. Sie schlüpft quasi in das Leben ihrer Mutter, fühlt den Leerstellen darin nach, möchte verstehen, auch sich selbst.
Das ist sehr eindrücklich und wenn auch kein komplettes Bild entstanden ist, so ist es doch ein sehr bewegendes und für die Kinder und Enkel vielleicht ein heilendes. Ausserdem ist die Sprache ganz wunderbar. Deswegen hier noch ein zwei Zitate:
Über die Grossmutter, die bei der Geburt stirbt – “Ganz leicht atmet sie die Vergangenheit aus. 45 Jahre entrollen sich, wellen sich wie ein weisser Stoffballen und fallen nacheinander ins Nirgendwo.”
Über die Mutter, die nie wirklich in der Welt stand und die sich vermutlich auch selbst unbegreiflich war – “Sie fragt sich auch selbst nichts Richtiges, oder sie stellt sich nur verfilzte Fragen, die noch vor dem Fragezeichen zerfallen. Sie lebt schon immer in der Unwissenheit, eine alte, durchlöcherte in Bezug auf ihre Vergangenheit und eine glatte, noch entfernte Ignoranz in Bezug auf die Zukunft.”
Oder über die Mutter als junge Frau und die Frage, ob sie je glücklich war – “… ein junges Mädchen mit konturlosen Gedanken und noch nebligeren Träumen. Könnte sie sich ausdrücken, würde sie sagen, ich bin es nicht. Für das Glück, das ihr von mir verlangt, besitze ich nicht die nötige Energie. Es zündet nicht.”
Für mich eine wunderbare Art, das Trauma der frühen Jahre und das daraus entstandene vage Lebensgefühl der Mutter in Worte zu fassen. Sehr traurig aber auch sehr schön!