Verloren in seinem Wollmantel stand er da.
Er stellte den Koffer ab, vor meinen Füssen, zog die Mütze vom Kopf. Westliches Gesicht. Dunkle Augen. Haare zur Seite gekämmt. Sein Blick ging durch mich hindurch. p.5
So die ersten Worte in Dusapins Erstling, für den sie 2016 den Robert Walser Preis erhielt.
Diese karge Beschreibung öffnet das ganze Spektrum des Romans.
Einsam, unheimlich, ohne wirkliche Perspektive.
Verloren in seiner eigenen Welt.
Für Yan Kerrand besteht die Flucht nach Sokcho im Problem, sich in seiner Geschichte zurechtzufinden, Abstand zu finden von seinen kulturellen Wurzeln, über die Trennung von seiner Frau hinwegzukommen. Hauptsächlich aber ist er in diese Abgeschiedenheit gekommen, um endlich Ruhe zu finden, die Stille zu entdecken, die er für seine Kreativität braucht. Er ist vor allem auf der Suche nach Inspiration in dieser trostlosen Landschaft.
Der Anfangssatz weist auch auf die klirrende Kälte hin, die die Gegend nahe der nordkoreanischen Grenze auszeichnet.
Nicht weniger verloren erleben wir die Protagonistin und Erzählerin in ihrem Touristenstädtchen zwischen Nord- und Südkorea, eine 24-jährige französisch-koreanische Studentin der Literaturwissenschaften, die in einer heruntergekommenen Pension jobt.
Sie lebt in einer Welt der Fischer, der Fischhändler und der Fischgerichte und ist auf der Suche nach sich selbst, nach ihrer kulturellen Identität. Als Hausmädchen, Köchin und Wäscherin kommt sie in Kontakt mit dem Comic zeichnenden Franzosen. Sie geht mit ihm einkaufen, fährt ins Grenzgebiet, besteigt einen Berg, begleitet ihn ins Museum, im Bemühen. Ihm das authentische Südkorea zu zeigen.
Dabei wird sie pausenlos von ihrer Mutter gegängelt, die endlich mehr Fleisch auf ihren Rippen sehen möchte und sie zur Heirat mit Jun-oh drängt. Dieser interessiert sich aber gar nicht für sie.
Der feinfühlig arrangierte Roman beschreibt mit viel Distanz die zögerliche Annäherung der beiden, die leise Hoffnung beim Leser auf ein happy-end aufkeimen lässt.
Die Visionen und Zeichnungen des französischen Gastes lösen in ihr eine tief verwurzelte Sehnsucht aus. Die Entfremdung des einen, siehe Romananfang, überspringt auf den anderen und löst den Wunsch nach einer Wende im Leben aus. Beide versuchen, die Realität des anderen zu sehen und finden schliesslich über die Verneinung der anderen Kultur zu sich selbst….
Mir hat Dusapins Stil gefallen. Vor allem die Beschreibungen, die Aufzählungen, wie auch die gekonnten Vergleiche:
„Unter dem prasselnden Regen erhob sich das Meer mit Seeigelstacheln.“ p.28
„Der Wellenschlag unregelmässig, hatte den Schluckauf.“ p.100
Draussen versuchte die Brandung dem anziehenden Frost zu widerstehen, doch wurden die Wellen immer schwerfälliger, bis das Wasser besiegt am Ufer zerbrach. p. 57
Der Fisch sah nun aus wie ein schlaffer Luftballon. p. 133
Dusapin ist eine Meisterin im Schaffen gleichgültiger, schon beinahe menschenfeindlicher Atmospäre, einer Art Vorhölle, indem die Charaktere versuchen, einen Mittelweg zwischen Leben und Tod (Waffenstillstand aber überall Wachtürme) zu finden, im Grunde, das Unsichtbare zu verdrängen.
Das Buch lebt von einer hohen Symbolik:
Da ist die Narbe an ihrem Oberschenkel, die sie sich als kleines Kind beim Fall in einen Fischerhaken zugezogen hatte und die sich am Schluss im Comic wiederfindet.
Da ist das Porträt einer Frau, das insgesamt dreimal mit Tusche übermalt wird.
Und überhaupt die Tusche des Comiczeichners und die Farbe der aufgestochenen Tintenblase des Octopus zeigen die geistige Gemeinsamkeit der beiden.