Dieser Roman ist anders als die allermeisten anderen Geschichten, die in der Zeit des Nationalsozialismus spielen. Er kommt ohne körperliche Grausamkeiten, ohne Konzentrationslager, ohne Geschützfeuer und Bomben, ja ohne Tod aus. Wir begleiten den unauffälligen, jüdischen Kaufmann Otto Silbereisen, der nach den Novemberpogromen 1938 mit nichts als einer Tasche voll Geld in den Zug steigt - Ziel ungewiss, bloss weg von den Nazischergen. Es ist genau dieses Ungewisse, die ständige Erwartung, entdeckt zu werden, verraten zu werden, die Otto Silbereisen und die Leserin langsam zermürben. Die Reise selbst ist nicht gerade spektakulär, aber genau das macht die Perfidität des Nationalsozialismus greifbar. Viele Male wollte ich das Buch weglegen, wollte “aus dem Zug” aussteigen, fliehen - und doch konnte ich nicht aufhören, weiter zu lesen. Meisterhaft!
Diesen Titel einen Klassiker zu nennen, ist möglicherweise nicht legitim, denn obwohl der damals erst 23-jährige Ulrich Alexander Boschwitz den Roman bereits Ende 1938, Anfang 1939 (!) verfasst hat, erschien er erst 2018 in deutscher Originalsprache. Boschwitz’ eigene Geschichte liest sich ebenso tragisch. Er emigrierte nach England, wo er kurz vor Kriegsbeginn interniert und zusammen mit vielen weiteren deutschen Auswanderern nach Australien verschifft wurde. Auf der Rückreise wurde das Schiff torpediert und Boschwitz ertrank mit nur 27 Jahren.