In Gianna Molinaris Buch Hier ist noch alles möglich werden auf unzähligen Ebenen Grenzen abgetastet, ausgelotet und abgerissen.
Eine alte, kahle Kartonfabrik, eine namenlose Nachtwächterin , ein wilder Wolf, der sich möglicherweise irgendwo auf dem Gelände herumtreibt - ungefähr so simpel wie die schlichte Sprache ist auch die Grundkonstellation in Gianna Molinaris preisgekrönten Roman. Dieser erschien im Juli 2018 beim Aufbau Verlag und erntete einiges an Anerkennung. Denn wenn gerade noch von ‚simpel’ und ‚schlicht’ die Rede war, soll dies ganz und gar nicht platt oder unausgereift heissen. Was einfach scheint, entpuppt sich als eine hochpolitische und philosophisch sehr interessante Erzählung, die einem sowohl brennende Fragen, wie auch klitzekleine Keime zugehöriger Antworten liefert. Multimedial mit Fotografien, Listen, Skizzen und Text schafft Molinari ein abgerundetes Werk, welches mit einem Gefühl der Unvollständigkeit brilliert.
Viel passiert in diesem Buch nicht: Durch Augen, Ohren und den besonderen Geist einer unbenannten Erzählerin erlebt man den Alltag in einer Welt, die in ihrer konkreten Wirklichkeit extrem reduziert ist. Die Protagonistin verbringt Nacht um Nacht damit, die Zäune einer nicht verorteten Fabrik zu überwachen, sieht sich Videoaufnahmen an und kontrolliert die Umgebung. Dem sozialen Kontakt und der entfernten Gemeinschaft entzieht sie sich permanent, weswegen man sie als Person nur vage erschliessen kann. Erst das Auftauchen eines Wolfes lässt sie in einem neuen Blickwinkel erscheinen. Trotzdem bleiben sie und ihr Umfeld im Ungenauen. Auch ihre Gedanken geben selten Hinweise darauf, wer die schleierhafte Protagonistin tatsächlich ist. Gehäufte, wiederkehrende Konjunktive weben eine Welt, in der so einiges sein könnte, aber nichts wirklich ist.
Plötzlich, zwischen ‚vielleicht’ und ‚möglicherweise’, wird ein anhaltender, nicht zu bezwingender Zweifel gesät, der den Leser alles hinterfragen lässt; vielleicht sogar die Existenz des Wolfes, der die Zäune des Fabrikgeländes überwunden haben soll. Das Eindrückliche daran ist, dass es Molinari auf diese Weise gelingt, die Realität und ihre Alternative tatsächlich gleichzeitig in unseren Köpfen koexistieren zu lassen. Nicht einmal herkömmliches Beweismaterial wie Fotografien, Videoaufnahmen und Phantomzeichnungen vermögen hier Gegebenheiten definitiv zu bejahen oder zu dementieren. So ist nicht nur das Dasein des wilden Tieres unklar, sondern auch die Unschuld der Protagonistin kann in Frage gestellt werden. Dieses Konzept birgt eine Unsicherheit, die kaltes Unbehagen aber auch warme Hoffnung zu evozieren vermag. Daraus entsteht ein fruchtbarer Nährboden für wertvolle Diskurse, was dem Roman hoch angerechnet werden darf und soll.
In einer Wirklichkeit, in der das Unwirkliche nicht ausgeschlossen ist, öffnet sich ein Zugang zum Fremden und Unbekannten. Dies ist in Hier ist noch alles möglich stark spürbar. Von der Welt ausserhalb des Fabrikzauns, über das Wesen der Erzählerin, bis hin zum Wolf bleibt alles in dieser Geschichte fremd. Trotz der Bemühungen der Protagonistin, die Realität auf eine beinahe wissenschaftliche Art fassbar zu machen, stehen die Dinge im nicht vertrauten Raum. Sie scheinen losgelöst von ihren gewöhnlichen Konnotationen zu sein. Besonders der Wolf, der im Kultur- und Literaturgeschichtlichen Gedächtnis eine klare Rolle zugeschrieben bekommen hat, kann bei dieser Erzählung ganz anders gedeutet werden. Es stellt sich heraus, dass besagtes Tier in dieser Geschichte, entgegen all unseren Ahnungen, erstaunlich zahm ist. Mit dem grausamen Wolf der Fabeln und der Grimmmärchen im Kopf stellen sich dem Leser so automatisch grundlegende Fragen zu Themen wie Migration, Gesetz und Gesellschaft, die in der Schweiz und auch international als sehr aktuell gelten. Wo sind unsere Grenzen? Wer kann diese überschreiten? Wer bestimmt das? Der Roman bleibt sich auch hier selbst treu und bemüht sich geschickterweise nicht, klare Antworten aufzutischen. Er setzt und wässert bloss einen Samen, um den Leser*innen die Möglichkeit zu schenken, ihn selbst heranwachsen zu lassen.
Und während man immer weiter liest, sich immer weiter in dieses Universum des ‚was wäre wenn’ verstrickt, ist die Geschichte plötzlich zu Ende erzählt. Man blättert die letzte Seite um, klappt den Buchdeckel zu und versucht sich an den Dingen festzuhalten, die sicher und tatsächlich sind. Man versucht zu deuten und den richtigen Sinn zu finden, doch je länger man dies probiert, desto mehr stellt man erstaunlicherweise hoffnungsvoll fest, dass es keinen ,richtigen’ Sinn gibt und dass hier noch alles möglich ist.