Dieses Buch hat einen langanhaltenden Nachhall in mir hinterlassen.
Ich habe es in meiner Schulzeit gelesen, am Gymi in Küsnacht. Das ist jetzt gute 30 Jahre her. Meine Deutschlehrerin hatte einen grossen Einfluss auf mich, sie war eine sehr belesene, weltgewandte Frau, voller Drang, uns die Augen und das Herz für die Weiten der Literatur und der darin festgehaltenenen Lebenserfahrungen zu öffnen. Den Inhalt könnte ich nicht mehr im Detail beschreiben, dafür verweise ich gerne auf die Rezensionen zur Taschenbuchausgabe Anna Göldin Ich weiss nur, dass es eines der wichtigsten Bücher ist, die ich gelesen habe, denn es hat mir Geschichte unmittelbar erzählt, lebendig und nah. Ich begriff, dass es mir ein Fenster aufmachte in das Gefüge unserer Welt, der gestrigen und der heutigen.
Mir geht es dieses eine Mal um etwas anderes. Die Frau, die hinter dem Verlag steht, der dieses Buch herausgebracht hat. Renate Nagel-Kohler.
Das Schicksal liess mich ihren Lebensweg kreuzen, als ich meinen Mann heiratete und seine Verwandtschaft kennenlernte. Sie war seine Tante. Sie lebte in Frauenfeld mit ihrem Mann zusammen und wir waren ihre Gäste. Dafür werde ich immer dankbar sein. Wir verbrachten sonnige Nachmittage auf ihrer Terrasse, sie servierte uns Kuchen und Kaffee und meine Tochter planschte in ihrem kleinen Schwimmbecken im Garten. Renate erzählte uns aus ihrem bewegten reichen Leben. Sie wurde ein paar Jahre vor Beginn des zweiten Weltkriegs geboren. Ihr Vater verliess die Familie, als sie fünf war. Ihr Haus wurde zerbombt während sie und ihre Mutter und ihre kleine Schwester im Keller sassen. Danach waren sie heimatlos. Die Mutter schlug sich durch. Renate half ihr, wo sie konnte, so klein sie war. Sie liebte die Schule, war gut. Wollte immer mehr lernen, später studieren. Sie machte ihren Weg, reiste viel. Weil ihr Mann in der Schweiz eine Stelle antrat, zog sie hierher. Sie begann beim Benziger Verlag zu arbeiten, und als dieser sich auflöste, gründete sie kurzerhand ihren eigenen Verlag.
Lesen bedeutete für sie: “Man lernt fremde Welten kennen. Man begegnet im Spiegel der fremden Erfahrungen der eigenen Erfahrung wieder. Und im Idealfall findet man zu sich selber”.
Das genau ist es, was mir Lesen so wichtig macht. Warum ich immer weiter und weiter lese, begierig nach jeder neuen Welt, die sich mir öffnet, das Hineinhorchen in die fremden Herzen und den Nachhall spüren in meinem eigenen Herzen. Und sagen können: “Ja, so ist es. So empfinde ich auch”.
Oder, im noch besseren Fall, sagen zu können: “So habe ich es zwar nicht gewusst, aber es muss wahr sein”.
Renate ist am 29. Juli verstorben, am 19.8. war die Beerdigung in Frauenfeld. Viele Wegbegleiter*innen sassen zusammen auf der Terrasse und erzählten Geschichten, die sie mit ihr erlebt hatten. Viele Namen aus der Schweizer Literaturszene, die ich bewundere. Die lobend über ihre Pionierarbeit sprachen. Ihr Vermächtnis, ihr Engagement, das vollumfassend war. Ihr Vertrauen, ihre Hingabe. Sie hat uns etwas hinterlassen, das uns bleiben wird. Und das Schöne daran ist, dass wir hin- und herreisen können in der Zeit, dass wir uns aussuchen dürfen, was wir geniessen möchten aus dem Koffer ihres reichen Schatzes.
Vielen Dank, Renate. Es war mir eine Ehre, dich gekannt zu haben.