Eine eindrückliche Lebensgeschichte aus einer längst vergangenen Zeit des Umbruchs hat Robert Seethaler mit “Ein ganzes Leben” geschrieben.
Im Mittelpunkt seiner Geschichte steht Andreas Egger, der als kleiner Junge, sein Alter wird auf vier Jahre geschätzt, nach dem Tod seiner Mutter 1902 zu seinem Onkel auf den Bergbauernhof kommt. Es ist ein einfaches Leben voll harter Arbeit und Entbehrungen. Doch Andreas beschwert sich nie. Später blickt er auf sein Leben zurück, die Arbeit, den Krieg und seine eine große Liebe, Marie.
Am eindrucksvollsten fand ich Andreas’ Perspektive auf das Leben. Er ist kaum zur Schule gegangen und verlässt das Tal eigentlich nur, um in den Krieg zu ziehen und nach Russland zu gehen. Das Dorf in den Bergen ist seine Welt, die er in- und auswendig kennt. Es ist eine eingeschränkte Sicht, die den Blick auf das Wesentliche richtet: das Wetter, die Jahreszeiten, die jeweilige Schlafunterkunft, die körperlich anstrengende Arbeit. Das macht der allwissende Erzähler, der gelegentlich vor- und zurückspringt in Eggers Leben, auch sprachlich deutlich, wobei Seethaler ihn sich bewandter ausdrücken lässt als seinen einsilbigen Protagonisten. Das wird besonders deutlich, als Egger einen Brief an seine Marie schreibt. Doch nie ist Überheblichkeit zu spüren, sondern Respekt und etwas Nostalgie oder auch Melancholie ob dieser verlorenen Zeit.
Denn in Eggers Leben hält die Moderne Einzug ins Dorf, in Form von Bergbahnen, Elektrizität und später dem Fremdenverkehr. Bauern geben die Landwirtschaft auf und errichten Gästehäuser und Gaststätten, weil sich damit eher Geld verdienen lässt. In der Schule werden die Kinder mit der Pensionierung des alten Lehrers immer ausgelassener und auch Egger passt sich den wandelnden Zeiten an und wird, spät, zum Bergführer.
Wer sich nach den Bergen sehnt, nach einer Vereinfachung unseres Lebens oder einfach nach einer vergleichsweise kurzen, bedächtig, urteilsfrei und toll geschriebenen Geschichte sucht, wird an “Ein ganzes Leben” Freude haben. In mir hat die entschleunigende, ruhige Lektüre Ehrfurcht vor den Leistungen früherer Generationen sowie Dankbarkeit für deren Opfer ausgelöst, die die unzähligen Annehmlichkeiten unseres heutigen Lebens oft erst ermöglicht haben.