Handlung und Figuren
Tilda, um die 20, beginnt zum Ende des Buches ein Mathematik-Studium in Berlin, wo sie auch hingezogen ist, nachdem sie sich aus den Verstrickungen und Abhängigkeiten in ihrer Familie lösen konnte. Von dieser Befreiung erzählt dieser Roman. Die alkoholkranke Mutter hatte Tilda während ihrer ganzen Schulzeit gefordert und gebunden. Nebst um ihre Mutter hat sich Tilda auch um ihre jüngere Schwester Ida gekümmert. Sie ist am Anfang des Buches 10, später dann 11 Jahre alt.
In ihrer Freizeit jobbt Tilda an der Kasse im Supermarkt. In lustigen Szenen schaut sie jeweils nur aufs Laufband mit den verschiedenen Artikeln und versucht so einzuschätzen, welche Person wohl einkaufen mag. Öfters trifft sie es sehr genau mit ihren Spekulationen und weiss immer wieder, wer da was einkauft. Abends schwimmt Tilda ihre 22 Bahnen. Und ihr Lieblingsfach ist Mathematik. Überhaupt hat es Tilda auch in ihrem Alltag sehr mit den Zahlen. Die Autorin schreibt deshalb bei Zählungen keine Buchstaben, sondern immer Ziffern: 1 Mal, 2 Männer, 4 Stunden, 2 fach usw.
Sprache
Die Sprache nutzt Caroline Wahl auch sonst, um die Stimmungen und Gefühle ihrer Hauptfigur, der Ich-Erzählerin Tilda, zu schildern: Sie macht das mit kurzen, präzisen Sätzen, manchmal nur mit einzelnen Wörtern, mittels genauer Beobachtung der Umgebung.
Raffiniert: Öfters formuliert die Autorin einen Gedanken, den Tilda hat. Einen Gedanken mitten in einem Dialog. Und den spricht die Protagonistin danach auch aus: Seit wann schüttelt er so oft seinen Kopf? - «Seit wann schüttelst du so oft den Kopf?»
Dadurch bin ich als Leser nah bei der Figur, bewege mich mit ihr von Szene zu Szene, nehme sowohl Anteil an ihren Gedanken wie auch an ihren Gesprächen.
Anderseits sind viele Dialoge ganz kommentarlos verfasst. Das Geschehen wirkt dabei unmittelbar und intensiv, wie im Film oder im Theater.
Coming-of-Age-Story
Tilda und Ida lösen sich von der krankhaften Abhängigkeitsbeziehung zur Mutter. Tilda konfrontiert sie mit ihren Plänen und sagt ihr, dass sie nach Berlin ziehen möchte zum Studieren. Die Mutter meint, es sei ihr egal, Kinder erziehen sei eh scheisse. Ida wird zunehmend selbständig. Tilda traut ihrer kleinen Schwester ein Leben ohne sie – nur zusammen mit der kranken Mutter – zu, was ich doch etwas unglaubwürdig finde. Ida ist erst 11-jährig. Sie zeigt aber hoffnungsvolle Ansätze, ihr Leben mehr und mehr selber zu gestalten. Sie hat eine neue Schulfreundin. Und sie übernimmt Verantwortung in ihrem Alltag.
Liebesroman
Caroline Wahl schildert die Liebe ihrer Protagonistin Tilda zum etwas verstockten Viktor in einer wie ich finde einmalig rührigen Szene:
Tilda ist in Viktor verliebt. Sie hat nicht Schmetterlinge im Bauch, sondern Libellen. Meistens 2. Und sie erklärt Viktor das Wesen der Libellen. Sie seien auf ihrer Jagd nach Nahrung so beutesicher wie kein anderes Raubtier. „Die möchte man aber nicht zum Feind haben“, meint Viktor. Tilda: „Es ist ja krass, dass diese Jäger ausgerechnet in mich hineingeflogen sind. Ich kapituliere - und möchte nicht, dass du weggehst.“
Gelungenes Debüt
Zum Schluss: Ein sowohl originelles wie auch offenes und hoffnungsvolles Ende für einen gelungenen Coming-of-Age-Roman. Jugendroman, Liebesgeschichte – das ist «22 Bahnen» auch, mit einem sozial-dramatischen Touch, in einer überzeugenden und oft überraschenden Sprache. Ich freue mich auf das nächste Buch von Caroline Wahl.
Ja, und was hat es mit den überfahrenen Radieschen auf sich? Das sei hier nicht verraten …