Als junge Frau versucht Tilda nebst ihrem Studium, der Arbeit an der Supermarktkasse und ihrer Sorge um ihre kleine Schwester Ida und ihre alkoholkranke Mutter ihre Träume am Leben zu erhalten. Sie versucht auch wie viele andere mit Drogen ins Leben zu kommen, einerseits zu fliehen, der Kleinstadt zumindest im Trip zu entkommen, anderseits eben intensiver ins Leben einzutauchen. Die Mutter hingegen versucht mit ihrer Sucht abzutöten, zu vergessen, das Leben wegzuspülen oder gewaltsam (an Ida) wegzuschlagen.
Also sind wir einmal mehr mitten in zerrütteten Familienverhältnissen, der schier unlösbaren Aufgabe für Tilda, für Ida und ihre Mutter zu sorgen. Und da wäre noch ihr eigenes Leben, ihre Zukunft, die Pläne, die gar keinen Platz haben. Und was in Viktor, den Tilda heimlich bewundert, noch alles so brütet, ist nicht abzuschätzen. So schwimmt Tilda zwischen all ihren Pflichten ihre 22 Bahnen weiter und beobachtet Viktor nur als Zuschauerin. Demgegenüber ist Ida verschlossen, still, kann sich aber durch Zeichnen gut ausdrücken. Die Mutter stürzt immer wieder ab, wird gewalttätig, unerträglich, und nach einem erneuten Übergriff und der versuchten Besserung der Mutter fragt sich Ida: «Vielleicht haben wir es jetzt überstanden»? (133). «Vielleicht»: subtil schraubt Caroline Wahl die Spannung hoch. Zwischen Idas kindlicher Zuversicht («alles wird gut») und der real erlebten Gegenwart liegen Welten, die unspektakulär beschrieben werden und gerade dadurch eine Intensität erhalten, die weh tut. Dazu kommen dann noch die Erinnerungen und Rückblenden von Tilda, die einen nur noch mehr staunen lassen, mit welcher Resilienz und welchem Willen sie ihr Leben gestaltet, hin- und hergerissen zwischen ihrer sie faszinierenden Welt der Mathematik, den täglichen Arbeiten, den Sorgen um Ida, der verzweifelten Liebe für ihre eigentlich unausstehliche Mutter und ihren eigenen Träumen.
Im zweiten Teil äussert Ida in gekonnt geschilderten Dialogen mit Tilda klar ihre eigene Meinung– und Tilda respektiert diesen Willen fraglos. Dass die Mutter völlig betrunken auf dem Notfall landet, erstaunt wenig, leitet aber eine entscheidende Wende ein:
Erstaunlich, wie Caroline Wahl mit dieser Szene und dem grossen Fieber von Tilda eine Metamorphose schafft, als wäre eine Schwelle überschritten, so dass nun nicht mehr das Chaos und die reine Anstrengung bestimmend sind, sondern die Träume und die offenbar vorhandenen inneren Ressourcen von Tilda und Ida ihre Wirkung entfalten. Dass Viktor ihnen unaufgefordert beisteht, mag erstaunen, offenbart aber auch hier seine letztlich intakten inneren Ressourcen. Auch wenn die Situation von Tilda und Ida kaum auszuhalten ist, Tilda gelingt es mit ihrer Konsequenz und «mathematischen» Haltung (Zahlwörter schreibt sie als Ziffern) nicht aufzugeben, dranzubleiben, Pläne zu entwickeln und zu verwirklichen.
Nach der Notfallszene mit der Mutter wird deren Krankheit immer nebensächlicher, das Fieber von Tilda ändert die Blickrichtung entscheidend. Sorgfältig entwickelt sich die Handlung zu einem Happyend, das schon beinahe kitschig idyllisch ist. Und doch ist recht fein gezeichnet, wie sich Tilda und Viktor annähern, zuerst selber gar nicht daran glauben, dass es so etwas wie Liebe sein könnte, dass sie als je verletzte Menschen ihre Masken fallen lassen und in einer neuen, hingebungsvollen Art zueinander finden können. Bei einigen Stellen wird Tildas Sehnsucht nach «es wird schon gut» sehr deutlich spürbar, wo sie vor Rührung beinahe weint – und nicht mehr vor Schmerz oder Wut.
Die Libellen als Metapher für bis anhin verschüttete Gefühle sind grossartig, und dass der Roman im Schwimmbad sein Ende findet, ist auch stimmig (Tilda wartet, bis auch Victor 22 Bahnen geschwommen hat). Der dialogische Schreibstil gefällt mir, ebenso dass konsequent aus Tildas Optik geschrieben wird: so wird das Buch leicht lesbar und klar verständlich ohne unnötige Nebenschauplätze.
Interessant ist auch die innere Haltung, die mir so wider den ungeduldigen und rasenden Zeitgeist zu gehen scheint, wie sie auf S. 194 zum Ausdruck kommt: «Im Morgengrauen laufen wir zurück. Leider wieder nicht ans Meer, aber das ist okay, denn wir haben Zeit. Wir sind ja erst gerade beieinander angekommen».
Für mich ist das Buch in einem leichten und gut lesbaren Stil geschrieben, auch wenn der Dialogstil etwas stolpern lässt, ist es doch hilfreich, dass jeweils der Name des oder der Sprechenden steht. Das Cover lädt zum Eintauchen ein, erfrischend, wie kaltes Wasser auch schockierend und belebend.
Mir hat das Buch sehr gefallen, gerade nachdem ich einige Romane über zerstörte Kindheiten gelesen habe (Claudia Schumacher, Liebe ist gewaltig; Ursula Fricker, Gesund genug; Rebekka Salm, Die Dinge beim Namen; Daniela Dröscher, Lügen über meine Mutter; Sarah Jollien-Fardel, Lieblingstochter). Trotz übler Umstände wirkt eine lebensfördernde Kraft, eine unausgesprochene Zuversicht, die über das Beklagen oder Beschreiben der widrigen Situation hinausführt.
Mir hat an Tilda und Ida gefallen, wie sie dranbleiben, mutig sind und mutig werden und sich so eigentlich selbst aus dem Sumpf herausziehen. Diesen Durchhaltewillen angesichts schwieriger Voraussetzungen– auch wenn er vielleicht etwas optimistisch geraten ist – habe ich sehr geschätzt am Buch.