Was für ein Ritt! Juli Zeh und Simon Urban lassen in ihrem modernen Briefroman zwei ehemalige Mitbewohner die wichtigsten und aktuellsten Themen debattieren. Das Ergebnis liest sich provokant, erhellend und appelliert daran, einander wieder richtig zuzuhören und unsere Debattenkultur zu fördern.
Theresa und Stefan haben vor 20 Jahren zusammen in Münster Germanistik studiert. Dann brach sie das Studium und den Kontakt zu Stefan ab, um nach dem Tod ihres Vaters dessen Milchbauernhof in Brandenburg zu übernehmen. Stefan beendete sein Studium und ist heute Journalist bei einer renommierten Zeitung in Hamburg. Zufällig laufen sie sich rund um Neujahr 2022 in Hamburg über den Weg und nehmen ihre Freundschaft per E-Mail- und Messenger-Nachrichten wieder auf.
Zwischen den beiden liegen nicht nur 20 Jahre, sondern buchstäblich Welten. Auf der einen Seite Stefan: kinderlos, Single, in einer schicken Wohnung in Hamburg in einer Wohlstandsblase lebend und im Beruf für die gute Sache schreibend. Auf der anderen Seite Theresa: 2 Kinder, bemüht, den Erwartungen ihres Ehemanns an eine gute Ehefrau gerecht zu werden, und gleichzeitig gefangen in der dank Bürokratie, steigender Pachtpreise und gleichzeitig sinkender Lebensmittelpreise immer unrentabler werdenden Tretmühle der modernen Landwirtschaft. Er lebt im Westen, sie im Osten; er in der Stadt, sie auf dem Land; er beschäftigt sich theoretisch mit den Problemen unserer Zeit, sie kämpft tagtäglich praktisch gegen deren Auswirkungen.
Entsprechend inhaltlich geladen sind die Nachrichten teilweise, die sie sich schreiben. Sie versuchen, um Verständnis zu werben für ihre Positionen, scheitern aber zu oft daran, sich nicht richtig zuzuhören und vor allem, sich nicht aufeinander zuzubewegen. Das stellen sie selber fest, suchen nach Ursachen und finden sie in unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Sie debattieren Gendersternchen, Feminismus, kulturelle Aneignung, Ukrainekrieg, Politikverdrossenheit, Klimawandel, Journalismus vs. Aktivismus und so vieles mehr.
Die E-Mail- und Messengernachrichten sind unterschiedlich lang und dadurch liest sich der Schlagabtausch entsprechend rasant. Spannend ist, wie sie feststellen, dass ihre Unterhaltung per WhatsApp zu oft eskaliert, und wie sie später, als Theresa sich radikalisiert, zu Telegram und alternativen Mail-Anbietern wechseln. Der Roman ist in drei Teile unterteilt (5.1.-18.5.2022, 4.7.-24.-8.2022 Und 27.8.-4.10.2022) und in den Leben von Theresa und Stefan spitzt sich die Lage immer weiter zu.
Die Sympathien für Stefan und Theresa wechseln zwischenzeitlich und sie sind beide ambivalente, realistische, lebendige Charaktere, über die sich ebenso diskutieren lässt wie über die behandelten Themen.
«Zwischen Welten» hält uns in vielerlei Hinsicht einen Spiegel vor. Ob wir uns darin ganz oder teilweise erkennen, ist natürlich sehr individuell, aber gerade das mag ich. Der Roman bietet unzählige Themen, bei denen wir uns während der Lektüre fragen können: Wie stehe ich dazu? Darüber lässt sich auch prima mit anderen diskutieren, ob oberflächlich oder vertiefend. Urban und Zeh gelingt es zudem, die Probleme, vor denen die Landwirtschaft aktuell steht, sichtbar zu machen. «Zwischen Welten» ist ein hoch politischer Roman, der nicht nur jede*n einzelne*n von uns, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes und vor allem die Politik in die Verantwortung nimmt. Mich hat der Roman sehr beeindruckt!