“Draußen konnte man unmöglich vergessen, dass unsere Geschichte unter dem Blick der Gesellschaft stattfand, und ich nahm das als Herausforderung an, um die Konventionen zu ändern.”
Damit fasst Annie Ernaux das Ziel ihres neuesten Buches “Der junge Mann” treffend zusammen. Als sie Mitte fünfzig ist beginnt sie eine Affäre mit einem dreissig Jahre jüngeren Mann. Nicht nur Ende der 90er eine skandalöse Verbindung, sondern auch heute noch, was vermutlich ein Grund ist, das sie “Der junge Mann” nun, knapp 20 Jahre nach Ende der Beziehung, veröffentlicht.
“Neben A.s Gesicht war auch meins jung. Männer wissen das seit ewigen Zeiten, also sah ich nicht ein, warum ich es mir hätte versagen sollen.”
Ihr trockener Humor, die Lanze, die sie für weibliche Selbstbestimmung bricht, und die Einordnung der Beziehung in den Kontext ihres literarischen Schaffens machen “Der junge Mann” so lesenswert. Sie schreibt gewohnt sachlich und präzise, fast distanziert, trotz Ich-Perspektive.
"Vielleicht lag es an diesem Bedürfnis, das Schreiben in Gang zu setzen - wegen seines Ausmaßes zögerte ich, das Buch [“Das Ereignis”] anzugehen -, dass ich A. nach einem Abendessen im Restaurant […] noch auf ein Getränk mit zu mir nahm."
Einzig die radikale Kürze des Buches hat mich etwas enttäuscht. Es fehlt u. a. der weitere gesellschaftspolitische Kontext, der bspw. “Die Jahre” oder “Einer Frau” innewohnt. Und sie stellt zwar auch hier sprachliche und andere, die Herkunft verdeutlichenden Distinktionen heraus, jedoch nicht im Mass ihrer anderen Werke. Auf der anderen Seite bringt sie ihre Botschaft dank Kürze und ohne Umschweife auf den Punkt.
Fans von Annie Ernaux werden “Der junge Mann” sicherlich lesen wollen. Allen, die die Autorin erst entdecken, würde ich zunächst empfehlen, eines ihrer herausragenden anderen Werke zu lesen.
Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck.