Nell, mit Muttermalen auf ihrem ganzen Körper geboren, wächst 1866 in Südengland auf. Als «Jasper Jupiters Zirkus der Wunder» im Ort einen Halt machen, beschliesst ihr Vater, der wie alle anderen Nell zu meiden versucht, sie zu verkaufen. Obwohl Nell gegen ihren Willen verkauft wurde, beginnt sie ihr neues Leben als «achtes Weltwunder» zu geniessen: Sie findet neue Freunde, Liebe und Erfolg – doch es gesellen sich auch viele Probleme dazu …
Erstmals möchte ich sagen: Ich liebe historische Romane! Auch wenn Nells Geschichte fiktional ist, so sind doch viele Personen in diesem Buch von echten Begebenheiten inspiriert. Nicht nur die Personen, sondern auch Teile der Geschichte, die auch die Nachwelt geprägt haben. Interessant fand ich es, als auf echte Personen referiert wurde, wie beispielsweise auf den berühmten Kriegsberichterstatter William Howard Russell.
Vor allem hat mir der Schreibstil der Autorin gefallen: Ausreichend viele Metaphern, die immer in einer Verbindung zum Zirkus stehen, somit setzt Macneal klar die Grenzen zwischen dem Zirkus und dem Rest der Welt. Diese Protagonisten im Buch sind also gewissermassen in ihrem Zirkus gefangen. Weiter lassen sich die Sätze sehr flüssig lesen, ich kam in einem angenehmen Tempo durch die Seiten. Die kreierte Atmosphäre im Buch hat mich gefangen genommen – vor allem, wenn von den Zirkusauftritten erzählt wurde: Ich konnte mir das Zelt, die Leute, die Lichter vorstellen.
Nell, Toby und Jasper als Protagonisten dieser Geschichte zu wählen, finde ich mutig. Denn Toby und Jasper sind unzertrennliche Brüder, die ihr gesamtes Leben emotional aneinander gebunden sind. Ich war mir nicht sicher, ob nicht einfach alles doppelt erzählt werden würde – aber keinesfalls. Toby, der schüchterne, sensible junge Mann, der nach der Anerkennung seines grossen Bruders strebt und Jasper, der selbstständige, furchtlose Zirkusführer, haben zwar dasselbe erlebt, aber jeweils andere Lehren daraus gezogen.
Allen drei Charakteren steht man als Leser:in während der Geschichte sehr nahe und sympathisiert bis zu einem gewissen Grad mit allen – bis Jasper grössenwahnsinnig wird. Jasper ist einer der besten Antagonisten, den ich je gesehen habe. Er hält die Zügel in der Hand, er ist der Drehpunkt der gesamten Erzählung: Wenn etwas bei Jasper schief läuft, dann läuft in der gesamten Geschichte etwas schief. Da es ein spannungsgeladenes Verhältnis zwischen Toby und Jasper, als auch zwischen Nell und Jasper gibt, kommt das Buch stets voran, es bleibt die gesamte Zeit über spannend.
Nell muss sich als neue Attraktion im Zirkus zahlreichen moralischen Fragen stellen: Ist es in Ordnung, dass sie ihren neugewonnen Ruhm geniesst? Ist es in Ordnung, sich selbst intentional als Objekt ins Rampenlicht zu stellen? Endlich muss sie sich für ihre Muttermale nicht mehr schämen; sie wird zu einer Inspiration für die Zuschauer:innen. Dennoch ist sie abhängig von Jasper – sie gehört ihm, denn er hat sie gekauft. Nells emotionales Chaos, zusammen mit ihrer aufflammenden Beziehung zu Toby mitzuverfolgen, ist bis zum Finale hin ergreifend.
Dennoch hat mir die grosse Wendung, die unvorhersehbare Überraschung gefehlt. Die Geschichte hat mich nicht so eingenommen, wie ich es mir gewünscht hätte. Vielleicht, weil sie so nah an der damaligen Realität ist und nicht jede Geschichte mit einem ungeahnten Twist und einem nahezu zerstörerischen Knall endet.
Ich bin hin und her gerissen, ob die Autorin zum Ende hin vergessen hat, sich noch Mal um die Geschichte zu bemühen oder ob sie dieses leichtere Ende intentional gewählt hat.
Nichtsdestotrotz ist es ein Buch, das einen vor die Fragen stellt, wie frei man in seinem Willen wirklich ist. Und es zeigt die Entwicklung einer starken und mutigen jungen Frau, die sich trotz aller Widerstände durchzusetzen versucht.
Fazit
Neben dem Schreibstil, der mit abwechslungsreichen Metaphern geschmückt ist, überzeugen mich die Protagonisten Jasper, Toby und Nell. Sie alle stehen in einer komplizierten Beziehung zueinander, die auch ihre Sicht auf die Welt beeinflusst. Während man zu Beginn noch mit allen sympathisiert, findet man schnell heraus, wer einem näher am Herzen liegt. Während man Nell begleitet, die eine beeindruckende Charakterentwicklung durchmacht, lernt man das Zirkusleben sowohl aus Jaspers als auch au Tobys Sicht kennen. Die Spannung zieht sich durch die gesamte Geschichte, wobei man aus dem Finale noch etwas mehr hätte herausholen können.