Was für ein Buch: Die Geschichte einer Familie, eines Landes, der Kultur, Politik, Wirtschaft und Religion – kurz: eine Geschichte von allem, was das Leben der Autorin, Ana Iris Simón, bisher geprägt hat.
Entstanden ist ein autofiktionales Porträt, nicht nur der Autorin, sondern auch ihrer Generation und der jüngeren Wirtschaftsgeschichte Spaniens. Symptomatisch dafür hat sie nach dem Studium ganz verschiedene Jobs ausgeübt, die teils nichts mit ihrem Studium zu tun hatten, nur um vor ihrem 30. Geburtstag bereits dreimal die Kündigung zu erhalten.
Nun also ist ihr Erstling auf Deutsch erschienen, der vor Erzähllust und -kunst nur so sprüht. Sie spielt darin mit Sprache, vor allem mit regionalen oder auch familiär geprägten Ausdrücken, die ins Deutsche zu übertragen der Übersetzerin, Svenja Becker, ganz hervorragend gelungen ist. Sie spielt aber auch mit der Länge ihrer Sätze, was mir vor allem in der Wiedergabe der Gespräche mit ihren Freundinnen aufgefallen ist. Da reihen sich die Wörter ohne Punkt und fast ohne Komma aneinander und ich hatte den Eindruck, den lebhaften Diskussionen live beizuwohnen.
Grundsätzlich beginnt sie mit Anekdoten aus ihrer Kindheit, von der aus sie zu ihrer Jugend wechselt, um mit Gedanken zu Familie, Elternschaft und Liebe – also quasi Erwachsenenthemen – abzuschliessen. Ihre Erinnerungen, die sie hier sammelt, sind oft von Assoziationen geprägt und enthalten zwangsläufig gedankliche Sprünge, doch Simón holt uns immer wieder zurück zu ihrem jeweiligen Einstiegsgedanken und beendet auch ihre Kapitel immer so, dass sich ein Kreis schliesst. Auch im Erzählstil zeigt sich das Alter der jeweiligen Erinnerungsphase und so überzeugte bspw. das erste Drittel in seinen Erkenntnissen und Gedankengängen mit kindlichem Charme. Charme ist ohnehin etwas, das ihre gleichnamige Ich-Erzählerin im Überfluss hat, ebenso wie Humor.
Im «zweiten» Teil, als sie langsam erwachsen wird, häufen sich interkulturelle Verweise, bspw. mit Zitaten aus Trainspotting, Erwähnung von Memes, Internetphänomenen, der Popkultur und natürlich von Liedern. Spanische Musik prägt Phasen ihres Lebens ohnehin, was mich mehr als einmal wünschen liess, es gäbe eine Playlist zum Buch.
Aber auch die spanische Geschichte, Wirtschaft und Politik der letzten siebzig und insbesondere der letzten dreissig Jahre spielen, zwangsläufig, eine grosse Rolle, und so philosophiert, analysiert und urteilt sie über deren Einflüsse auf ihr Leben und das ihrer Generation. Manch pauschale Aussage wirkt provokativ, regt aber zu eigenen Überlegungen an – und der Wunsch formt sich, es liesse sich (mit ihr) darüber diskutieren.
Eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielt ihre Familie. Wie sie von ihren Eltern, den zahlreichen Onkel und Tanten, den Grosseltern, Cousinen und ihrem kleinen Bruder, Javi, erzählt, ist so voller Zärtlichkeit und Liebe, dass ich mir am Ende gewünscht habe, selbst zu ihrer Familie zu gehören. Sie wächst mit den Geschichten ihrer Familie auf, sie formen eigene Rituale und sie entwickelt sich an den Diskussionen mit ihrem Vater, der in seinen Geschichten lebt, zu einer eigenständigen Denkerin. Ausserdem ist er mit ein Grund dafür, dass sie nun Geschichten schreibt. Denn als sie achtundzwanzig Jahre alt war, «eröffnete er uns auch, was unsere Aufgabe war. Bis dahin war er dafür zuständig gewesen, uns zu erzählen, was und wie alles war. Er hatte sich darum gekümmert, die Wirklichkeit, unsere Wirklichkeit, zu ordnen, sie sich auszudenken oder eher, sie uns zu erklären. Jetzt waren wir an der Reihe, das für ihn zu tun. Der Moment war gekommen. Wir hatten aufgehört, Kinder zu sein.»
Am Schluss habe ich unzählige Stellen markiert, Zitate herausgeschrieben, viel über Spanien gelernt und eine neue Lieblingsautorin gefunden. Ana Iris Simón ist eine grossartige neue Erzählstimme, von der ich hoffentlich noch viel lesen werde.