Während einer mehrjährigen, schweren Wirtschaftskrise finden die USA einen Sündenbock: China. Fortan wird alles Chinesische verbannt und stattdessen Amerikanisches gefördert. Asiatisch-stämmige Amerikaner sehen sich Diskriminierung ausgesetzt: sie werden nicht bedient, ignoriert, bespuckt, geschlagen, gestossen, manche ermordet. Wer sich wehrt, wird vom Opfer zum Täter erklärt. Wer dagegen protestiert, verliert seine Kinder. Unzählige Familien werden so auseinandergerissen, kaum jemand traut sich, darüber zu reden, bis überall im Land stumme Aktionen zum Protest aufrufen: Eisskulpturen, eine Flut von Tischtennisbällen in einem Fluss, eine rot gestrichene Innenstadt, rote Netze, an denen kleine Puppen baumeln und überall die Zeile aus einem Gedicht: Unsre verschwundenen Herzen.
Der 12-jährige Bird kennt diese Gedichtzeile. Seine Mutter, Margaret Miu, hat das Gedicht geschrieben. Vor drei Jahren verschwand sie plötzlich. Nun macht sich Bird auf die Suche nach ihr.
Celeste Ngs Dystopie erinnert stark an Margaret Atwoods “Der Report der Magd”. Beide sind fantastisch gut geschrieben und beide sind, erschreckenderweise, nicht so abwegig. Celeste Ng, Autorin u. a. von “Kleine Feuer überall”, schliesst ihren Roman daher auch mit weiterführender Literatur über die Geschichte auseinandergerissener Familien (Indigene, Sklaven, Latinos), asiatischer Diskriminierung und der Unterdrückung von Meinungsfreiheit zum “Schutz” und der Wahrung der “Sicherheit”.
Birds Geschichte erzählt sie als allwissende Erzählerin mit viel Empathie für ihre sympathischen, tragischen Figuren in drei Teilen und überwiegend aus Birds Perspektive oder der seiner Mutter. Einzigartige Details sind ihre Liebe zu Sprache und Geschichten, die sich in der Begeisterung von Birds Vater für die Herkunft von Wörtern, der Welt von Geschichten und Märchen, in denen Bird aufwuchs, und den Bibliothekarinnen, die ihr Netzwerk zum Aufspüren entführter Kinder nutzen, zeigt.
Auch wenn Birds Mutter gegen Ende Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Unterfangens bekommt wird deutlich, wie viel Macht Geschichten haben und wie wichtig es ist, dass wir sie uns erzählen, dass wir zuhören.
Ein beeindruckender, spannender, beklemmender, teils wunderschöner Roman über das Menschsein, unsere Gesellschaft, Angst, Fehler, die Liebe und die Kraft der Geschichten.
Übersetzt von Brigitte Jakobeit.