„Und Carla war tot. Rita war tot. Meine Mutter war tot. Um mich herum stapelten sich die toten Frauen.“ (S. 207)
Der Roman beginnt mit einer Ohrfeige, ein männlicher Schlag in ein weibliches Gesicht. Jurist gegen Juristin. Und enthüllt somit sogleich die Mär, dass nur Männer der unteren Schichten Schläger seien. Amir ist Jurist wie die Ich-Erzählerin. Diese wird von ihrer Kanzlei nach Cruzeiro do Sul, einer Stadt im Südwesten Brasiliens geschickt. Als Berichterstatterin der Gerichtsverfahren in den Fällen von Tötungsdelikten, deren Opfer Frauen sind. Im Rahmen dieser Untersuchung soll die Autorin jeden interviewen: Mörder, Staatsanwälte, Richter, Verteidiger, Ermittler, Zeugen und überlebende Opfer und Angehörige. Eines offenbart sich klar und deutlich: die Täter sind Männer aus allen Kreisen der Gesellschaft: Soldaten, Handwerker, Bauern, Beamte, Studenten, Analpheten oder Akademiker. Sie sind Ehemänner, Freunde, Liebhaber, Brüder, Väter, Stiefväter, Schwager, Nachbarn. Sie stilisieren sich selbst zu Opfern: die Frauen würden sie provozieren, ihnen das Leben zur Hölle machen, sie herabsetzen, betrügen, ausbeuten, aussaugen, überfordern.
Der Roman ist dreigeteilt; die einzelnen Erzählstränge ziehen sich mehr oder weniger abwechselnd durch das Buch und sind durch die Art der Kapitelkennzeichnung leicht voneinander zu unterscheiden. Jeweils kurze Abschnitte sind einem Opfer gewidmet: Im Protokollstil wird angegeben, wer welche Frau getötet hat - manchmal erfahren wir auch den Grund der Tötung. Wir lesen: „getötet vom Ehemann“, „getötet vom Schwager“, „getötet vom Ex-Freund“, „getötet vom Vater“ usw.
Auf nur 247 Seiten spricht der Roman sehr viele unterschiedliche gesellschaftliche Missstände an. Neben den Femiziden geht es auch um Machismus, Drogenschmuggel, Korruption, die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, deren Armut, rassistische Ausgrenzung und die Zerstörung des Regenwaldes. Historische Ursachen für die Missstände werden angerissen, aber nicht weiter ausgeführt. Hinzu kommt die mythologische Ebene der brasilianischen Amazonen-Kriegerinnen, die während der Visionen eine Rolle spielt. Der Roman ist eine Mischung aus Tatsachenbericht, Krimi und Drogentrip. Vor allem die Erlebnisse der Ich-Erzählerin und die Gewaltexzesse während ihres Drogenrausches waren mir zu viel. An anderer Stelle hätte ich mir mehr Informationen über die nur angerissenen Themen gewünscht. Die Autorin schreibt über ein Tabuthema und zeigt, dass Gewalt gegen und Tötung von Frauen vor allem im privaten und häuslichen Umfeld vorkommen. Sie räumt mit der Vorstellung auf, es seien nur bestimmte, nämlich sozial schwache Bevölkerungsgruppen betroffen. Femizide in Brasilien betreffen alle gesellschaftlichen Schichten.
Patrícia Melo hat ein wichtiges, erschütterndes Buch geschrieben, das sich sprachlich flüssig und wie ein sozialkritischer Kriminalroman lesen lässt. Die vielen Themen, die nur angerissen wurden, hätten für mich gerne noch weiter ausgeführt werden können. Eine Leseempfehlung für alle, die sich für häusliche Gewalt und das Thema Femizide interessieren.