Was mit einem Paukenschlag oder Augenstich beginnt, wird schnell tiefgründig und feinsinnig. Unscheinbares fügt sich zusammen zu einem Bild, wo der freie Wille verdeckt oder offen, verdrängt oder verleugnet oder unterdrückt überall durchscheint. Leicht kann man sich hinter äusseren Vorgaben, Rollen, Konventionen, Obrigkeitshörigkeit und vermeintlichem Gehorsam verstecken. Aber leise braut sich etwas zusammen, weg von der gewohnten und allgemein akzeptierten Verlogenheit hin zu mutig gelebtem Leben. Vom ersten Satz an wird deutlich, dass da noch andere als die offensichtlichen Kräfte verborgen und am Werk sind: ein inneres Wachsein, ein Aufbrechen, ein Innewerden von tieferem Mut und Kompromisslosigkeit, mit denen der Autor unscheinbar, leise aber bestimmt auf eine Revolution, einen Umbruch, einen Aufbruch hinsteuert.
Ja, die kleine Susanna ist anders, mutiger: von einer inneren Gewissheit getragen steigt sie zu Anton auf den Bock, teilt ihr Brot mit ihm – Verarbeitung, tätige Reue oder Wiedergutmachung? – und befreit sich so von der inneren Last des Augenstichs.
Capus ist leicht zu lesen, erzählerisches Meisterwerk, zuweilen auch sehr ausschweifend. So wird das Leben von Susanna als Portraitmalerin in New York ziemlich ausladend beschrieben. Zwischendurch dann Hinweise, die hoffen lassen, man lerne Susannas Innenwelt genauer kennen: «Susanna wollte überhaupt keinen Lebensweg einschlagen. Für sie gab es keine Wege. Es gab nur Schritte, die sie machen würde (128). Allerdings sind diese Schritte dann ziemlich unbeteiligt geschrieben, vage wird von einer «unbestimmten Hoffnung, dass etwas Neues kommen musste, und dass sie, um frei zu sein für das Neue, das Bestehende ablehnen mussten» (137) geschrieben. Die Frage bleibt, wie unabhängig wir von unserer eigenen inneren Prägung sind. Kann die eigene innere Freiheit mit dem Willen überstimmt werden?
Die Zeit und mit ihr der Fortschritt drängen weiter, äusserlich tut sich neues auf, die Brücke zur neuen Welt ist offen und hell erleuchtet – aber ist damit die alte Welt überwunden? Trotz äusserer Entwicklung kommt das Leben zum Stillstand und die grosse Frage bleibt: Wer ist Susanna? Irgendwo ist sie trotz allem in ihrer Lebenswelt gefangen, in ihren Konventionen. Ja, es gab für sie nur Schritte – und diese blieben dann im Treibsand stecken. Wie zu erwarten war, bricht sie auf nach Grand River, wagemutig, abenteuerlich und protegiert reist sie in den Westen. Dort aber scheint sie – nicht wie im realen Leben, in dem sie sich mutig für die Native Americans einsetzte – steckenzubleiben, die Begegnung mit Sitting Bull enttäuscht - schlussendlich zieht sie sich sogar zurück.
Der Schluss lässt mich ratlos zurück. Klar war Susanna mildtätig, aber auch ganz klar protegiert auf der weissen Seite. In Grand River scheint es zunächst, dass sie angekommen ist: «Ihr Herz war voll. Susanna war da, geborgen im Kosmos, allem zugehörig und eins mit der Kraft, die alles durchströmte» (265).
Trotzdem: ihr Versuch der Teilhabe am Leben in Grand River, ihr Gespräch mit Sitting Bull, ihre Argumente der Vernunft vermögen gegen die religiös-rituellen Angstbewältigungspraktiken der in Bedrängnis geratenen Natives nichts auszurichten. Ob das auf die Auswüchse mancher Verschwörungsfanatiker in letzter Zeit anspielt?
Ja, Susanna nutzt ihre Freiheit, die sie dank ihres materiellen Vermögens und ihres privilegierten Standes geniesst, und versucht in Grand River zu helfen. Aber ist sie wirklich frei, emanzipiert, oder nutzt sie nur geschickt ihren Status? Und Christie, wohin wird es ihn treiben? Klar hat Susanna sehr mutig und eigenständig gehandelt, aber die Frage bleibt: wer ist sie, und wohin geht sie?
Was spannend und meisterhaft erzählt beginnt, wird zuweilen etwas langatmig und lässt gegen Schluss manche der geschickt gelegten Erwartungen unbearbeitet ins Leere laufen - schade.