Man kann Martin Luther Vieles vorwerfen: Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, ungenaue Übersetzungen in der Bibel und anderes mehr. In alledem war er einerseits Kind seiner Zeit und unterlag andererseits der Last seines pionierhaften Tuns. Das alles ist kein Grund, sich nicht mit seinen Schriften auseinanderzusetzen.
In diesem Buch wurde sinnvollerweise Luthers Schrift “Vom unfreien Willen” zusammen mit Erasmus’ “Vom freien Willen” abgedruckt. Denn Luthers Stück ist eine Reaktion auf die Gedankengänge des Vaters des Humanismus. Gleichzeitig trifft die Publikation einen Nerv in unserer Zeit, denn kein Thema wird seit einigen Jahren so intensiv diskutiert wie die Frage, inwieweit wir Menschen wirklich einen freien Willen haben oder unsere Wahrnehmung bloss den willkürlichen Machenschaften unseres Gehirns zum Opfer fällt.
Weder Erasmus noch Luther waren Hirnforscher. Sie nähern sich der Willensfreiheit von theologischer und philosophischer Perspektive. Die Stichhaltigkeit der Argumente überzeugt auf beiden Seiten. Erasmus: Wenn die zehn Gebote erschaffen wurden, dann muss es auch den freien Willen geben, sich für oder gegen ihre Einhaltung zu entscheiden. Luther: Die zehn Gebote sind nicht dazu da, um erfüllt zu werden, sondern um den Menschen den Spiegel ihrer Sündhaftigkeit vorzuhalten. Dass die Gebote nicht eingehalten werden können, sei von vornherein klar. So geht Luther auf Erasmus’ Argumente der Reihe nach ein.
Das Fazit des Reformators ist ernüchternd und überraschend zugleich: Zum Glück habe der Mensch keinen freien Willen. Denn ginge es nach ihm, könne er niemals erlöst werden. Gottes Plan sei aber die Erlösung des Menschen und aus diesem Grund habe er dessen Willensfreiheit beschränkt. Auf gut Deutsch: Der Mensch kann zwar eine Menge Unfug anrichten, aber Gott weise den Menschen immer wieder in die Schranken, um seine Schöpfung vor noch mehr Unheil zu bewahren. Soweit die Luther’sche Argumentation.
Ich finde es toll, dass es anno 2016 immer noch Herausgeber gibt, die sich die Mühe machen, solche angeblich unzeitgemässen Schriften zu publizieren. Sie bringen trotz ihres Alters frischen Wind in die Diskussion eines hochaktuellen Themas.