‘Lebensmitte’ wird zumeist ‘chronologisch’ verstanden - doch ist es eher eine Schwelle, ein Übergang vom ‘Äusseren’ zum ‘Wesentlichen’ - vom ‘Schein’ zum ‘Sein’ - und das ist NICHT per se ans Alter gebunden - so jedenfalls die Überzeugung von Richard Rohr.
In der ersten Hälfte des Lebens kreieren wir unser Gefäss. In der zweiten sollte es mehr um den Inhalt gehen. Doch viele bleiben beim Gefäss stehen, wollen gut dastehen, etwas bedeuten, nach Aussen ‘wirken’ - und merken dabei nicht, dass sie sich zu sehr um ihr Image kümmern - und das wird von Erwartungen von aussen, als auch von eigenen Vorstellungen diktiert - und das hat nicht viel mit Freiheit zu tun!
Doch wie kommen wir in die zweite Hälfte? - Wir können es uns zwar ‘wünschen’, aber nicht ‘machen’. Denn zumeist sindes schmerzhafte Situationen und leidvolle Erfahrungen, die es uns ermöglichen, in eine neue Seinsbewegung hinein zu finden - und dagegen wehren wir uns selbstverständlicherweise. Es gilt, sich dem Leben und all dem Dunklen und Schweren zu stellen, offen zu sein für das, was sich darin verbirgt, um genau dadruch zum eigentlichen Ich und Leben zu finden. ‘Nach oben fallen’ wie Rohr es in paradoxer Weise formuliert - fallen ins Leid, das gleichsam zum Trampolin wird, das uns nach open ‘katapultiert’.
In einfacher, klarer, mitunter humorvoller Sprache nimmt Rohr uns Lesende an der Hand, zeigt Richtung und möglichen Weg. Ohne dabei das eine gegen das andere auszuspielen, denn: alles hat seine Zeit - und dieser seiner Zeit auch Gültigkeit und Berechtigung.
Dass genau Kirche und Religion oft genug Hindernisse auf dem Weg in die Reife sind, ist beschämend und schmerzlich zugleich. Auch hier legt Rohr den Finger auf den wunden Punkt, um ins Eigentliche hinein zu führen, zeigt offen und direkt die Widersprüchlichkeiten und den Verrat an Jesu Lehre auf. Dabei vermag Rohr den Blick zu weiten. Seiner Überzeugung nach ist christlicher Glaube nicht ‘ausschliessend’ und in jeder Religion und Überzeugung gibt es ‘allgemein Gültiges’ zu finden, worin man sich wieder trifft.
Überhaupt ist die zweite Hälfte eben gerade in jener Reife verankert, die zu verbinden und versöhnen weiss, die sich nicht über Gegensätze und Aus-/Abgrenzung definiert. Nicht mehr ‘entweder-oder’ prägt das Denken, sondern ‘sowohl-als auch’.
Ein ausgezeichnetes Buch, das den Blick weitet und neue Perspektive/n zu vermitteln vermag!