«Diese legendäre Zugfahrt! Erzähl noch mal, wie das war! Sie haben die Geschichte so oft wiederholt, voreinander wie auch vor anderen. Einmal hat sie gesagt, sie wisse allmählich selbst nicht mehr, was daran stimme und was nicht, Oskar dagegen erinnert sich an alles.»
Ein Mädchen fährt mit seinem Papa im Zug nach Malma. Ebenso tut es ein Ehepaar, welches Glück nur noch im Präteritum kennt, und eine junge Frau, die Antworten auf ihre Fragen sucht. *Endstation Malma», das sind drei Geschichten, die sich wie drei Stränge zu einem Zopf verbinden. Dreimal fahren wir als Leser mit den Protagonisten nach Malma, dreimal werden Zeugen von Beziehungen, ihren Tiefen und Abgründen und ihren Dynamiken. Wir nehmen Teil am Leben einzelner Menschen und machen uns mit ihnen auf die Suche nach den Antworten auf ihre brennenden Lebens-Fragen.
Gedanken zum Buch
«Harriet sucht nach Anzeichen von Verärgerung in seinem Blick oder in seinen Bewegungen. Heute achtet sie besonders darauf, denn dass sie diese Reise unternehmen, liegt an ihr, sie fühlt sich deshalb in ihrer Schuld. Nur ihretwegen steht Papa jetzt dort, sie trägt die Verantwortung dafür…»
Nach der Trennung der Eltern bleibt Harriet bei ihrem Vater, ihre Schwester geht mit ihrer Mutter fort. Harriet weiss, dass ihr Vater auch lieber ihre Schwester bei sich gehabt hätte, sie hörte es bei einem Streit der Eltern. Harriet hat Mitleid mit ihrem Vater, weil er sich mit ihr abfinden musste, und sie versucht fortan, ihm alles recht zu machen. Sie fühlt sich verantwortlich für seinen Schmerz, seine Probleme, und auch dafür, wenn die Welt für ihn nicht rund läuft.
«Da haben wir sie, in all ihrer Pracht, die grossartige Geschichte, wie sie sich kennenlernten. Immer haben sie sie als etwas durch und durch Romantisches erzählt. Doch jetzt, angesichts der Ereignisse am Abend zuvor, fällt Oskar plötzlich auf, dass ihre Geschichte genauso begonnen, wie sie geendet hat: mit einer Lüge.»
Max Frisch sagte einst, wir erzählen uns Geschichten, die wir dann für unser Leben halten. So geht es auch unserem Paar in dieser Erzählung. Sie lebten ein (gemeinsames) Leben und haben verschiedene Versionen von Geschichten. In glücklichen Zeiten waren es romantische, jetzt, im Angesicht der Krise, sind es ernüchternde. Die Frage ist schlussendlich: Welches ist die richtige Geschichte? Gibt es überhaupt diese eine richtige Geschichte oder erzählen wir Geschichten je nach Stimmungslage und Situation anders? Sind vielleicht alle Versionen richtig, weil sich ein Leben nur durch einen Kontext erfahren lässt, welcher der Geschichte und dem Leben eine Form und einen Sinn gibt? Was passiert, wenn wir uns unsere Geschichten bewusst anders erzählen, als sie sich aktuell richtig anfühlen?
«Sie dachte wieder an ihre Mutter. Seit Jahren hatte sie keinen Gedanken an sie verschwindet. An dem Tag, an dem sie vor zwanzig Jahren aus ihrem Leben getreten war, hatte sie beschlossen, sie auszuradieren… Doch jetzt erschien sie ihr plötzlich in neuen Erinnerungsbildern, die ihr keine Ruhe liessen.»
Wir neigen oft dazu, unliebsame Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu streichen. Wir verdrängen das Schmerzhafte, lassen nur dem Schönen Platz, um das Schwere aus der Vergangenheit nicht in die Gegenwart tragen zu müssen. Meist gelingt das nur vordergründig. Tief drin wirkt die Vergangenheit weiter, sie setzt sich fest, treibt ihr Unwesen im Unbewussten und bricht irgendwann wieder hervor. Nicht selten dann mit einer Gewalt, die vieles durcheinander wirbelt.
«Nur ein einziges Mal im Leben geschieht es, dass man einen Blick auf sich selbst erhascht. Und dies, und nur dies, wird entweder zum glücklichsten oder zum schrecklichsten Moment des eigenen Lebens.»
Drei Lebensgeschichten, eine Zugfahrt. Dass die drei Erzählstränge zusammenhängen, ist von Anfang an offensichtlich. Das tut der Spannung keinen Abbruch, da jede Geschichte viele offene Fragen mit sich bringt: Was haben die Protagonisten erlebt, wie wurden sie, wer sie sind, und wie hat die eine Geschichte die andere geprägt. Im Zentrum steht immer die Grundfrage, wie Verhaltensweisen, Muster und Eigenschaften in Familien weitervererbt werden. Für die Antworten dieser Fragen gilt: Einsteigen, Platz nehmen, lesen.
Das Buch scheint in seinem Erzählfluss das Thema aufzugreifen. Wie eine Dampflokomotive fährt die Geschichte schnaubend, etwas zäh an, nimmt dann mehr und mehr Fahrt auf, um schlussendlich mit Volldampf aufs Ende zuzusteuern.
Fazit
Ein tiefgründiger, vielschichtiger Roman darüber, wie Familien und Beziehungen prägen. Bewegend, warmherzig, zum Nachdenken anregend.