Julia Samuel, britische Psychotherapeutin, gibt uns in ihrem Buch «Jede Familie hat eine Geschichte» Einblick in ihre Arbeit. Anhand von acht Fallbeispielen betrachtet sie einerseits recht spezifische Familienthemen und zeigt andererseits, was wir alle daraus mitnehmen können.
Jedes Kapitel widmet sich einer anderen Familie und hat einen anderen Schwerpunkt: unklare Vaterschaft, Eltern werden durch Adoption, Empty Nest, konfliktreiches Patchwork, Tod eines Kindes, Suizid des Vaters, Holocaust-Trauma und unheilbar krank sind die Kapitelüberschriften und -themen ihres Ratgebers.
Die konkreten Fallbeispiele machen das Buch lebendig. Gut gefallen hat mir, dass Samuel uns bei jeder Geschichte vorlebt, wie wir Emotionen in uns verorten und benennen können. Wie schon erwähnt sind zwar die Themen sehr spezifisch und trotzdem konnte auch ich viel aus den jeweiligen Kapiteln mitnehmen. Teils, weil Samuel noch nebenbei konkrete Strategien aufführt im Umgang mit Schwierigem (zum Beispiel Tipps bei intensiver Grübelei), teils, weil sie auch universale Verhaltensmuster für einen gelungenen Umgang miteinander einflicht (einander aufmerksam zuhören, die anderen Meinungen respektieren, das Verhalten vorleben, was wir in anderen sehen wollen etc.). Rückblickend hätte ich es nicht schlecht gefunden, wenn ihre Tipps am Ende des jeweiligen Kapitels erneut stichpunktartig zusammengefasst worden wären. Auf der anderen Seite kann ich das bei aufmerksamer Lektüre auch selber nach jedem Kapitel machen.
Etwas gestört hat mich, dass sie das Äussere der jeweiligen Familien bei der ersten Sitzung mit besonderem Augenmerk auf Kleidung, Frisur, Schmuck so detailliert beschreibt. Ob dieser erste oberflächliche Eindruck vielleicht ebenfalls aussagekräftig für ihre Arbeit ist? Ebenfalls schade fand ich, dass die erste Auflage doch noch einige Rechtschreibfehler enthält…
Samuel, die als Ich-Erzählerin schreibt und immer sehr menschlich wirkt, recherchiert während ihrer Arbeit viel und auch das ist eingeflossen in die jeweiligen Kapitel.
Im Anhang sind dann auch alle Werke aufgelistet, die sie für die jeweilige Familie zusätzlich noch konsultiert hatte. Doch nicht nur das: Im Anhang finden sich noch 12 Tipps für eine glückliche Familie, ein Fragebogen zu belastenden Kindheitserlebnissen, eine kurze Geschichte der Familie, 20 Fragen, die gemeinsam mit den Kindern betrachtet werden können, um ihnen mehr von ihrer Familie zu erzählen (mein Highlight), zehn wichtige Fragen für eine langfristige Partnerschaft und Informationen zu EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing – eine Methode zur Verarbeitung von Traumata).
«Jede Familie hat eine Geschichte» ermöglicht uns ein besseres Verständnis von Familienstrukturen und zeigt uns, wie wir ein möglichst schönes familiäres Umfeld erschaffen – nicht nur mit unseren Kindern, sondern auch mit unseren Geschwistern, Eltern etc. Wie Philippa Perry betont auch Samuel, dass Familien nie perfekt sind und es einfach immer wichtig bleibt, etwaige Brüche zu heilen. Es ist ein positiver, lebendiger, vielseitiger und umfassender Familienratgeber, der eine Therapie nicht ersetzen können wird, der bei erneuter Lektüre aber sicherlich immer wieder neue Erkenntnisse bereithält, die beim ersten Mal untergegangen sind, und der das Potential hat, jedes Familienleben auf die ein oder andere Weise zu bereichern.
Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schäfer.