„Es ist, als hätte es diesen Sommer nie gegeben, obwohl nach drei Wochen Inselurlaub ihr ganzer Familienalltag auf dem Festland ein anderer geworden war, und niemand bereute es laut.“
Vier Schwestern treffen sich für die Beisetzung der Urne ihrer Mutter auf Langeoog, der Insel, welche in der Kindheit die schönsten Erlebnisse beheimatete, bis zu einem Sommer, in dem ein Erlebnis alles mit einem Schlag verändert. Waren die vier vorher ein eingeschworenes Team, gingen sie danach innerlich und mehr und mehr auch äusserlich getrennte Wege.
„Sie hat es sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf Langeoog zu setzen. Nie wieder. Und jetzt, da sie so nah dran ist, beginnen wieder die Lügen.“
Bei diesem Zusammentreffen brechen alte Wunden auf, Vorwürfe, die im Raum stehen, werden ausgesprochen, die Erinnerung wird wieder lebendig. Doch: Hat sie sich in den einzelnen Köpfen wirklich richtig eingenistet?
Stine Volkmann erzählt die Geschichte der vier Schwestern auf zwei Zeitebenen und aus verschiedenen Perspektiven. Immer wieder pendeln wir beim Lesen so zwischen der Gegenwart der erneuten Zusammenkunft und der Vergangenheit der Kindheit hin und her, erfahren mehr über die einzelnen Charaktere, ihre Beziehung untereinander und den Sommer, welcher das Leben der ganzen Familie nachhaltig geprägt hat. Langsam fügt sich Stein für Stein das Mosaik zusammen, bis am Schluss die ganze Wahrheit auf dem Tisch liegt.
Gedanken zum Buch
„Wie immer, wenn es um ihre Familie geht, steigt die altbekannte Wut in ihr auf, sie spürt Machtlosigkeit, fühlt sich wie so oft ungehört und ungesehen“
Familien sind Systeme mit eigenen Dynamiken, in welchen jeder eine bestimmte Rolle innehat. Diese Rollen zu durchbrechen, fällt schwer, sie brennen sich über viele Jahre ein und werden auch sorgfältig aufrechterhalten, da sie das System von innenheraus stützen. Nicht immer ist jeder mit seiner Rolle zufrieden, oft kommt es zu Streit, zu Eifersucht, zu negativen Gefühlen, mit denen jeder einzelne anders umgeht.
„Vielleicht sollte sie davonlaufen. Niemals wieder Eltern oder Schwestern haben. Niemals wieder so zerbrechen.“
Die einen können sich anpassen und kommen so gut zurecht, andere rebellieren und gehen auf Konfrontation, die dritten fliehen.
«Wer nichts ersehnt, wird nicht enttäuscht.»
Und dann gibt es die, welche schweigen, die sich immer weiter in sich zurückziehen und resignieren, weil sie die Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Besserung aufgegeben haben. Auch das ist wohl eine Flucht, die Flucht in die Verweigerung, für die der betroffene aber einen hohen Preis zahlt.
«Ich falle aus der Welt.»
Das Resultat dieser Verweigerung ist die Entfremdung – die von der Welt um einen und auch die von sich selbst, kann man doch ohne die Welt nicht existieren, nicht auf eine zufriedenstellende und lebenswerte weil sinnvolle Weise.
„Wer ist sie in der ganzen Geschichte?“
Wir erzählen uns Geschichten, die wir für unser Leben halten, sagte einst Max Frisch. Wir konstruieren aus der Vergangenheit eine Geschichte, die wir als unsere Lebensgeschichte in uns und nach aussen tragen. Was wir oft nicht bedenken, ist, dass Erinnerungen einerseits selektiv sind, andererseits wandelbar durch die Zeit. Was wissen wir wirklich? Was haben wir nur gedacht und durch die Wiederholung des Erzählens plötzlich zu einer Tatsache erhoben? Wovon wissen wir nur aus dritter Hand, dies aber so tief, dass wir glauben, es erfahren zu haben? Und was, wenn die Geschichte sich ändert, weil wir auf einen Irrtum aufmerksam werden? Was bedeutet das für die eigene Identität? Was verändert das für das Sein und das Selbstbild? Für die Verortung in der Welt, im eigenen Leben?
Stine Volkmann erzählt die Geschichte von vier Schwestern, doch stecken in dieser Geschichte ganz viele Fragen aus dem Leben: Was bedeutet Familie? Darf man lügen? Wie geht man mit einer Lüge um, und wie mit Schuld? Wer bin ich und wer bin ich in dieser Welt? Was, wenn die Welt sich ändert und ich keinen Platz mehr in ihr finde? Wie gehen wir mit Erinnerungen um?
Entstanden ist ein mitreissender Roman mit authentischen Charakteren, einem guten Spannungsbogen in einer flüssig lesbaren Sprache, der gegen Ende etwas an Tempo verliert. Das Ende selbst ist an Pathos und Kitsch leider kaum zu übertreffen, doch die Geschichte bis dahin mag das tragen, so dass es doch eine klare Leseempfehlung ist.
Fazit
Die grossen Fragen des Lebens in Romanform, die Geschichte von vier Schwestern, die in einem Sommer ihr Familiengefühl und irgendwie sich selbst verlieren, bis sie das Leben wieder zusammenbringt und sie einen Umgang mit der Vergangenheit finden müssen. Eine klare Leseempfehlung.