In „Lügen über meine Mutter“ entführt Daniela Dröscher Leserinnen und Leser in den Hunsrück der 1980er Jahre. Aus der Perspektive des kindlichen Alter Ego der Autorin durchlebt man ein „Kammerspiel namens Familie“, in dem alles um ein zentrales Thema kreist: das Körpergewicht der Mutter. In einer patriachial geprägten Zeit entscheidet der Ehemann, dass seine Frau zu dick ist und dringend abnehmen muss. Immer stärker beherrscht die fixe Idee des Vaters, das Übergewicht der Mutter ist für alles verantwortlich, was er nicht erreichen kann: Beförderung, sozialer Aufstieg, Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Zwischen den Betrachtungen der kindlichen Ella eingeschoben sind immer wieder Abschnitte, in denen die erwachsene Ella versucht, das Geschehene aus der heutigen Perspektive zu beleuchten: Was ist wirklich gesehen? Was wurde beschönigt, verheimlicht oder worüber wurde gelogen? Und was sagt das alles über die Gesellschaft aus, in der wir leben?
Schon allein die Familiengeschichte, die Dröscher so schonungslos offen beschreibt, wäre eindrücklich gewesen. Wie bedrückend muss es sein, wenn man immer für die negativen Aspekte des täglichen (Familien-)Lebens verantwortlich gemacht wird, wie lange kann man sich die innere Stärke bewahren, um sich dagegen aufzulehnen. Wie schafft man es, sich dieser subtilen Gewalt zu entziehen, vielleicht sogar dagegen zu stemmen? Interessant war darüber hinaus die Verknüpfung mit den Sequenzen der erwachsenen Ella, die Vorkommnisse hinterfragt und versucht, das Geschehene einzuordnen. Ich finde es ein sehr spannendes Stilmittel, diese beiden Erzählebenen zu kombinieren, um die Geschichte in einem gefühlten 360° Blick zu beleuchten.
Doch Dräscher verwebt die Familiengeschichte zusätzlich mit dem Blick auf die Gesellschaft selbst, setzt damit alles in einen größeren Zusammenhang. Was sagt es denn über die Gesellschaft aus, in der wir leben, wenn ständig von außen durch Normen und Forderungen auf uns eingewirkt wird – egal, ob wir es wollen oder nicht, wenn kritiklos Meinungen anderer übernommen werden und dadurch Einzelne ins Abseits gedrängt werden? Muss sich eine Gesellschaft nicht fragen lassen, welche Verantwortung sie gerade für die schwächeren Glieder in der Kette übernehmen muss, wo Fürsorge beginnt, und blindes Hinterherlaufen enden muss?
Auch wurde mir durch den Roman erneut sehr bewusst, wie lange Frauen auch in unserer westlichen Welt noch von der Zustimmung des Vaters oder Ehemanns abhängig waren. Viele zentrale Entscheidungen, wie z. B. berufliche Tätigkeiten, Weiterbildungen, konnten die Frauen nicht allein treffen. Dinge des alltäglichen Lebens wie der Kinderbetreuung waren allein Sache der Frauen.
„Lügen über meine Mutter“ ist für mich ein vielschichtiges Buch, berührend, tragisch-komisch, und bei allem auch ein Buch über eine Frau, die nie aufhört – mit offenen oder versteckten Rebellionen – für ein selbstbestimmtes Leben einzustehen.