Im Jahr 1939 in Krakau, als der Krieg droht, beschäftigt Marie zwei Fragen: Wer ist ihre Mutter? Und warum will ihr Vater nicht darüber reden? Ihr Vater, ein respektierter Arzt, der sich sonst so um sie sorgt und jeden Tag nach Hause kommt, um für sie zu kochen. Marie entschliesst sich dazu, die Sache selbst in die Hand zu nehmen …
Das Buch ist sowohl aus der Sicht von Marie als auch aus der Sicht des Vaters Dominik geschrieben, was der Geschichte mehr Schwung verleiht. Da man so nicht nur von Marie weiss, dass ihr Vater nicht über ihre Mutter reden will, sondern auch aus seiner Sicht liest, wie sehr er es zu vermeiden versucht.
Marie ist eine sympathische und aufgeweckte Protagonistin. Sie entspricht nicht den damaligen Normen und zieht grösstenteils ihr Ding durch. Was ich an ihrer Person besonders gelungen finde, ist, dass sie einem aufzeigt, dass es zu dieser Zeit eben immer noch Grenzen für Frauen gab. Es ist nicht so, dass sich ihr – nur weil sie mutiger als andere ist – plötzlich alle Türen öffnen. Sogar im Gegenteil: Die Türen werden ihr vor der Nase zugeschlagen und sie stösst oft auf Ablehnung. Und vielleicht betritt Marie diese Tür nicht, aber dann sucht sie sich eine andere Tür, an der sie es wieder versuchen kann. Und das ist es, was Maries Stärke als authentische Protagonistin ausmacht.
Dominik, ihr Vater, ist eher konservativ. Auch als Marie ihm verkündet, dass sie Medizin studieren möchte, ist er dagegen, da sich das Frauen damals nicht gehörte. Er ist still und zeigt seine Gefühle nicht besonders oft. Aber seine reservierte Art ist dennoch überzeugend geschildert.
Die Frage um die verschwundene Mutter ist zentral. Und der Weg zur Antwort auf diese Frage zieht einen durchs Buch und baut gehörig Spannung auf. Geheimnisse und Verleugnungen auf Seiten des Vaters lassen einen als Leser:in zappeln.
Sehr gelungen finde ich die Atmosphäre im Buch. Man spürt die neugierigen Blicke der Nachbarn auf der Strasse, man spürt die alten Traditionen und strengen Regeln, die meist unausgesprochen in der Luft liegen. Die Zeit wurde atmosphärisch zwar gut getroffen, aber mir fehlte die Stimmung Polens. Wenn nicht ab und zu erwähnt worden wäre, dass man polnisch spricht und man sich in Polen befindet, hätte es meiner Meinung nach sonst in jedem Land der Welt spielen können (die geschichtlichen Ereignisse ausklammernd).
Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto näher kommt der Krieg. Familien verfallen in Angst, flüchten, müssen aber die Väter und Söhne im Land lassen. Dieses traurige Stimmungsbild wurde seht gut aufgefasst: die Verwirrung und Panik stechen durch die Seiten. Auch die Wirkung der Nachkriegszeit wurde ernsthaft, aber echt aufgenommen.
Den Schreibstil finde ich schön und fliessend. Wie oben erwähnt, hätte ich mir aber manchmal etwas genauere Erfassungen der Stimmung gewünscht. Aber ansonsten wurden die Gefühle der Protagonisten sehr anschaulich und treffend vermittelt.
Die Autorin hat bemerkenswert gut mit den Leser:innen gespielt, sie an der Nase herumgeführt, Fährten gelegt und damit Erwartung und Aufregung gesät, die auf jeder einzelnen Seite präsent war. Es gibt versteckte Details in kleinen Worten und Hinweise in Satzwiederholungen, die einem erst am Ende die Bedeutung dieser vor Augen führen.
Das Ende ist undurchdringlich, spannungsgeladen und emotional!
Fazit
Eine Geschichte über die mutige Marie und ihren stillen Vater. Beide sind sehr authentische und überzeugende Protagonisten, die den Traditionen und Regeln dieser Zeit zugrunde liegen. Die Atmosphäre im Buch ist packend und voller Geheimnisse, die vor den Leser:innen im Dunkeln bleiben. Der Spannungsaufbau ist grandios und lässt einen bis zum Ende nicht los!