Wie ich im Austausch sehe, habt Ihr Mühe mit Odette, die uns als die so verbitterte verwitwete Mme Tanguy begegnet. Und Ihr seht zwei Charaktere bei Odette.
Ich habe daraufhin nochmals alles gelesen, was ich über Odette von ihrer Kindheit her bis zur Heirat mit Emile Tanguy finden konnte. Für mich ist ihr Werdegang eine Entwicklung: Zuerst war sie Odette Brozec, wissbegierig aber auch schüchtern, die Tochter des Dorfarztes in Bois d’en Haut und sie wurde von allen im Dorf respektvoll gegrüsst. Dann kamen die deutschen Besatzer. Odettes Vater durfte nicht mehr im Gemeinderat Mitglied sein. Und in Odettes Augen duldete das Dorf, dass man ihm zuerst das Auto faktisch fortnahm und er als Arzt zu seinen Patienten bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad fahren musste. Und noch schlimmer, die Dorfgemeinschaft liess es zu, dass Odettes geliebter und verehrter Vater verhaftet wurde und niemand unternahm etwas, um die bittere Not von Mutter zu Tochter zu lindern, die nun über keinerlei Einkommen mehr verfügten. Da lese ich wachsende Wut auf die Dorfbewohner in Odette, welche das Schicksal ihres Dorfarztes einfach stoisch hinnahmen.
Dann kommt Odette nach Paris, als Dienstmädchen in eine betuchte Familie mit entsprechendem Dünkel. Odette ist nichts mehr, weniger als nichts, denn die Haushherrin nimmt ihr sogar ihre Identität. Fortan ist sie Marie, weil alle Hausmädchen so heissen. Man muss sich nicht ihre Namen merken. Ihre Dienstherrin nimmt nur irritiert zur Kenntnis, dass "dieser bretonische Bauerntrampe"l die Höflichkeitstsprache beherrscht, den Supjonctif, eine spezifische Zeitform im Französischen, die es gestattet, in vollendeter Höflichkeit die grössten Gemeinheiten zu sagen (Les Liaisons Dangereuses von Choderlos de Laclos ist da das berühmteste Meisterwerk).
Dann fällt dem Herrn des Hauses auf, dass Odette sich für Literatur interessiert und er erlaubt ihr, heimlich seine Bücher in der Hausbiobliothek zu lesen. Damit beginnt er aber auch, das Hausmädchen mit anderen Augen zu sehen… Er macht ihr heimlich Geschenke. Und dann vergewaltigt er Odette. Fortan lebt sie in panischer Angst. Und muss erkennen, dass sie schwanger ist. Ihre Kind muss sie in der gefängnisartigen Klinik St-Ursuline bei Nonnen zu Welt bringen und sie kann “die Schönheit ihrer Tochter nur einen kuzren Augenblick wahrnehmen”, bevor sie fortgenommen wird. Als sie zu ihren Dienstherrin zurückkehrt, ist die Tür verschlossen. Sie ist arbeitslos, mit 200 Franc abgespeist.
Es ist die schlichte und dennoch tiefgründige Erzählweise quasi zwischen den Zeilen von Claire Léost, welche die ganze Tragik dieses Lebenswegs bewusst macht. Odette hat nun alles, wirklich alles verloren. “Als im Krieg die Geschichte aus dem Gleis gesprungen war, hatte sie sich geschworen, nie mehr ins Dorf zurückzukehren” (S. 145) Plötzlich erfährt Odette bei ihrer Arbeit, welche ihr die Bretonen von Saint-Denis gegeben haben, dass man in ihrem Heimatdorf ihren Vater wie einen Helden verehrt, eine Strasse nach ihm benannt hat. Es ist wie eine Wiedergutmachung für Odette und sie kehrt in ihre Heimat zurück. Dort vermag sie den Dorfladen mit ihren Ersparnissen zu kaufen - nie wieder will sie Befehlen folgen müssen. “In Paris war sie nicht mehr Herrin über ihr Leben gewesen, hatte es anderen geliehen, die darauf herumgetrampelt waren… In Zukunft hatte sie das Sagen.” (S. 146) Sie lernt den Hufschmied Emile Tanguy kennen, der sie “mit glühenden Augen” anschaut. Sie heiratet ihn. “Endlich war sie zu Hause.”
Sonst erfahren wir nichts mehr von diesem Ehemann und meiner Meinung deutet nichts darauf hin, dass er grob mit ihr gewesen wäre und sie ein schlechtes Leben mit ihm gelebt hätte. Die Verbitterung ist meiner Meinung nach allein durch die Ereignisse des Kriegs und vor allem durch die grauenhaften Erlebnisse in Paris in Odette gewachsen. Sie hat nicht zwei verschiedene Charaktere, ihr Wesen ist in Paris mit Füssen getreten und endgültig gebrochen worden. Die Trümmer hat Odette in eine Art eiseren Rüstung gesteckt, sie ist unnahbar und damit unverletzbar geworden. “Sie hat jetzt das Sagen”
Als Marguerite zum ersten Mal in Odettes Laden kommt, verkörpert sie alles, was Odette zutiefst hassen gelernt hat - den Pariser Akzent, die Eleganz, die Selbstsicherheit, die Überheblichkeit. Die ganze Wut, sorgfältig all die Jahre in Schach gehalten, lodert wie ein Stichflamme auf.
Ich glaube nicht, dass Odette auf ihre Tochter zugehen kann, falls sie sie erkennt. Wir werden sehen, was der dritte Leseteil bringt.